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Frankreich vor dem Referendum über den Europa-Vertrag

■ Für ein Europa ohne Mitterrand * Am 20. September entscheiden die Citoyens über Frankreichs Zukunft in Europa. Die Debatte wird längst von innenpolitischen Erwägungen beherrscht...

Für ein Europa ohne Mitterrand Am 20. September entscheiden die Citoyens über Frankreichs Zukunft in Europa. Die Debatte wird längst von innenpolitischen Erwägungen beherrscht. Statt den Bürgern den Einigungsvertrag zu erklären, versuchen etwa oppositionelle „Maastricht“-Befürworter, ihr Ja zu Europa mit einem Nein zu Mitterrand zu verknüpfen.

Ein Stier stürzt sich auf das blaue Banner mit den goldenen Sternen, ein Boxer geht auf Europa los. Verteidiger ist stets ein müder, alter Mann. Frankreichs Karikaturisten stilisieren den bulligen Oppositionsabgeordneten Philippe Séguin zum wichtigsten Herausforderer von Präsident Mitterrand. Hinter dem Neogaullisten müssen die übrigen Gegner des Europa-Vertrags von Maastricht zurückstehen. Grund für die Zuspitzung auf diese zwei Männer ist ein dreistündiges Fernsehduell, das gestern abend live über die Bildschirme flimmerte. In der Show mit dem Namen „Heute Europa“ hatte Präsident Mitterrand Gelegenheit, den Franzosen klarzumachen, warum sie sich in der Volksabstimmung am 20. September für den europäischen Einigungsvertrag aussprechen sollen. Der Staatschef bekam dabei Schützenhilfe von Bundeskanzler Kohl, der aus Bonn zugeschaltet war — es war ihr 113. Gespräch! Philippe Séguin, der frühere Sozialminister, wurde zum Kontrahenten auserkoren, weil er sich im Verlauf des Sommers als heftigster Gegner von Maastricht profiliert hatte. Punkt für Punkt kritisiert er den Europavertrag und warnt vor dem „Triumph des technokratischen Denkens“, bemängelt, daß die französische Staatsbürgerschaft verschwinden, daß Frankreich durch die neue Visapolitik die Kontrolle seiner Grenzen aufgeben werde und daß die Währungsunion nicht zum Wohlstand beitragen werde.

Die Meinungsinstitute ermitteln jetzt, ob der Schuß für Mitterrand nicht etwa nach hinten losging. Denn Auftritte des Präsidenten sind riskant geworden. Im Juni, als er sich für das Referendum entschieden hatte und die Sendung geplant wurde, galt das französische Ja zu Europa noch als sicher. Doch inzwischen dürfte selbst Mitterrand eingesehen haben, daß die Stimmung umgekippt ist. Nach elfjähriger Amtszeit, zahlreichen Affären und einer konstant hohen Arbeitslosigkeit von fast zehn Prozent wollen viele Franzosen nur noch eins: Mitterrand loswerden.

Die Europa-Debatte wird in Frankreich längst von innenpolitischen Erwägungen beherrscht. Die entscheidende Frage geht dabei völlig unter: Warum eigentlich sollten die Franzosen mit Ja stimmen? Das Hauptargument bleibt abstrakt: Ihr dürft nicht aufhalten, was die europäischen Gründungsväter und alle französischen Staatschefs seit über 30 Jahren in die Wege geleitet haben. Doch dieser vermeintliche Konsens überzeugt viele Lohnabhängige und Kleinunternehmer nicht mehr — sie befürchten, daß sie in einem supranationalen Rahmen der Konkurrenz nicht standhalten können.

Statt ihnen zu erklären, was der Einigungsvertrag konkret bringt, bemühen sich die oppositionellen Maastricht-Befürworter Giscard d'Estaing und Chirac, ihr Ja zu Europa mit einem Nein zu Mitterrand zu verknüpfen — ein schwieriges Unterfangen. Chirac beschwor seine Anhänger, vernünftig zu sein und nur auf die gestellte Frage zu antworten, denn „Mitterrand zieht aus seinen Niederlagen keine persönliche Konsequenz“. Doch nicht nur für den Präsidenten, auch für die Führer der Oppositionsparteien geht es in gut zwei Wochen ums politische Überleben: Ein Nein zu Maastricht würde das gesamte politische Establishment disqualifizieren — zugunsten der Maastricht-Gegner, die sich vor allem in den Randparteien wie der rechtsextremen Front National und der Kommunistischen Partei finden. Dieses Risiko verführt die Verfechter des Vertrags, sich mit Krisenbildern und Drohungen zu überbieten. Ex-Premierminister Rocard warnte in Anspielung auf das französische Zurückweichen vor Hitler 1938 vor einem „politischen München“. Der Präsident der EG-Kommission, Jacques Delors, kündigte an, er werde sein Amt an den Nagel hängen, falls der Vertrag abgelehnt werde. Die sonst so besonnene Oppositionspolitikerin Simone Veil bezeichnete die Maastricht-Gegner als „Frankreichs Totengräber“. Bettina Kaps, Paris

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