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Der gute Mensch vom Drogendezernat

■ Venedig: Bertrand Taverniers „Auf offener Straße“

Schlechte Filme erkennt man oft daran, daß sie das Wichtige zeigen wollen und darüber das Wesentliche verpassen. Sie reihen Höhepunkt an Höhepunkt und nivellieren so den Fluß der Bilder. Gute Filme zeichnen sich nicht zuletzt durch Nebensachen aus und auch dadurch, daß sie nicht zu Hauptsachen erklärt werden. Das Auto springt erst beim dritten Versuch an. Und aus dem Autoradio ertönt nicht sofort die zur Stimmung passende Musik.

Tavernier hat einen Film gemacht, der nur aus solchen Szenen besteht. „Auf offener Straße“ verfolgt die Arbeit eines Drogenfahnders in Paris. Lulu, Kripobeamter im Außendienst, hockt mit ein paar Kollegen in einem viel zu kleinen Bürocontainer und versucht Dealer zu fassen. Zweieinhalb Stunden lang nerviger Alltag: stundenlanges Warten, Kaffee aus Pappbechern, Schlägereien und zitternde, schwerkranke Süchtige. Mal schnappen sie einen mit 38 Gramm, der große Coup gelingt nie. Sie schlagen einen Dealer auf der Straße zusammen, der hat seinen Stoff schon verschluckt. Also Finger in den Hals, und Lulu muß das Zeug aus dem Erbrochenen herausklauben. Hastige Schnitte, keine künstliche Außenbeleuchtung, kalte, schnelle Dialoge. Paris ist eine Drecksstadt. Nach zwei Stunden ist man erschöpft, will aussteigen. Ein Anti-Cop-Film, gedreht aus dem Blickwinkel der Polizei.

Lulus Partner, der zuviel Mitleid hat, um ein guter Polizist zu sein, wird von Taverniers Sohn Nils gespielt, der selbst acht Jahre lang drogenabhängig war. Tavernier lernte Michel Alexandre kennen, einen Drogenfahnder, seit 15 Jahren im Außendienst. Alexandre hat das Drehbuch mitgeschrieben. Tavernier: „Ich wollte keinen politisch korrekten Film drehen, wie die Amerikaner sagen.“ Er wollte es so genau wie möglich, auch auf die Gefahr hin, des Rassismus' bezichtigt zu werden: Die geschnappten Dealer sind zu 90 Prozent Schwarze und Araber. Das ist Realität in Paris. Der Film ist beklemmend realistisch; man sieht die Brutalität, aber ohne jegliche Lust an der Gewalt.

Unglaubwürdig ist allerdings der Held. Didier Besace, der Darsteller des Lulu, blickt freundlich hinter seiner Hornbrille — ein sanfter Flic, der nur zupackt, wenn es sein muß. Die Informanten vertrauen ihm, die Frauen lieben ihn. Wie ein Vater kümmert sich Lulu um Cécile, die drogenabhängige Prostituierte, die längst HIV-infiziert ist und es trotzdem ohne Gummi macht. Aus der Haut fährt er nur, wenn die Moral auf seiner Seite steht — der gute Mensch vom Drogendezernat. Tavernier will einen Mythos demontieren und erzählt dennoch das Märchen vom aufrechten Antihelden. Vielleicht sollten Hauptfiguren ihre Drehbücher nicht selbst schreiben. Christiane Peitz

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