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Das 3-Sekunden-Gegenwartsfenster

Zum Kongreß in Hannover: Was als „Aktualität des Ästhetischen“ angepriesen wurde, erwies sich eher als Requiem  ■ Von Rüdiger Zill

Stadthalle Hannover, Kuppelsaal, der Kongreß zur Aktualität des Ästhetischen am Morgen des vierten Tages. Auf dem Podium steht Ernst Pöppel, Münchner Professor für Medizinische Psychologie, und berichtet über die neuesten Ergebnisse der „postmodernen Hirnforschung“, ausgeschlafen, informativ, witzig, aber auch bescheiden. Daß er etwas zur Ästhetik beitrage, gibt er nicht vor. Er will lediglich darauf hinweisen, daß es so etwas wie biologische Randbedingungen des Ästhetischen gäbe, neurophysiologische Wurzeln ästhetischer Prinzipien, zum Beispiel das Drei- Sekunden-Gegenwartsfenster (vermutlich schrumpfungsresistent), den Zeitraum, den die Syntheseleistung des Gehirns nicht ohne Pause überschreiten kann. Keine Gedichtzeile ist länger als jene drei Sekunden, und wenn sie es doch ist — wie beim Hexameter — braucht sie Zäsuren. Pöppel zitiert uns Beispiele in deutsch, englisch, französisch und spanisch und stellt so gleich noch seine Sprachbegabung unter Beweis. Auch musikalische Auftakte sind nicht länger als drei Sekunden. Der Referent zeigt hier auf seine Weise: die Grenzen des Ästhetischen. Dem Korrespondenten hingegen zeigen sich: die Grenzen des Physischen. Aus seinem Drei-Tage-Vergangenheitsfenster sieht er erschöpft sechsundreißig Vorträge, sechs liegen noch vor ihm.

Die Biologie der Ästhetik ist eine schöne Abwechslung; zwei Tage zuvor hatte Bernd-Olaf Küppers über die Ästhetik der Biologie und anderer Naturwissenschaften informiert. Gemeint ist der Eindruck, den mathematische Formeln hinterlassen, wenn sie graphisch dargestellt und vom Computer mannigfaltig eingefärbt werden.

Bei anderen Schwerpunkten wirkt die Verknüpfung mit dem Kongreßthema noch loser. Was hat zum Beispiel die „Verzeitlichung der Alltagserfahrung“ mit der Aktualität des Ästhetischen zu tun — oder die „Dominanz der Medien“? Die Vorträge dieser Sektionen selbst lassen uns da im dunkeln. Daß Medien natürlich doch eine bedeutende Auswirkung auf Kunst, insbesondere auch die Raum- und Zeiterfahrung, die in ihr repräsentiert ist, haben, erfährt man dann eher in anderen Sektionen, etwa in Wibke von Bonins Vortrag „Vom Künstlerfilm zum Video-Clip“, indem sie überblicksartig zeigt, wie Künstler im Laufe dieses Jahrhunderts „auf die technischen Angebote zur Beschleunigung der Bilder — Foto, Film, Video, Computeranimation — reagierten“.

Während von Bonin sich der Produktionsseite widmete, hat sich Barbara Sichtermann der Rezeptionsseite zugewandt. Allerdings geht es hier weniger um Kunst, sondern allgemeiner um Ästhetik im Sinne einer Wahrnehmungslehre. Die Referentin widerspricht gleich ihrer eigenen Fragestellung „Bilderlesen — Was mit uns geschieht, wenn wir fernsehen“. Denn es geschieht weniger etwas mit uns, als daß wir etwas geschehen machen. Es gibt ja nicht das Fernsehbild an sich, das einen hilflosen Zuschauer aggressiv oder verführerisch überwältigt, keinen diabolus ex machina; Fernsehbilder sind immer schon rezipierte Bilder, visuelle Eindrücke, die an in der Erinnerung gespeicherten Vor-Bildern gemessen — und nicht selten auch korrigiert — werden (was Ernst Pöppels Vortrag aus neurobiologischer Sicht zum Teil bestätigt). Wir machen mit den Bildern, was wir wollen! ist Sichtermanns sicher überzogene, aber angesichts der ewigen Jammeraden der Verführungstheoretiker notwendig polemische These, die die Zuschauerperspektive stärken will. Auch der Mediengebrauch ist etwas, das man lernen muß, und gerade bei den TV-Kids von heute hat die Referentin da schon einen erfolgversprechend selbstbeherrschten Umgang ausmachen können.

Von einem hübschen Beispiel für solch selbstbewußten Umgang mit neuen Techniken und Medien weiß auch Thomas Ziehe zu berichten. Seine angesichts einer Vielzahl neuer Computerspiele äußerst ratlosen Eltern tröstet ein Sohn: „Ich weiß, daß Ihr euch große Sorgen macht, aber beruhigt Euch. Das ist nur eine Phase in meiner Entwicklung.“ Ansonsten widmet sich Ziehe den symbolischen Praktiken und Selbststilisierungen gesellschaftlicher Gruppen und ihrem Wandel von den fünfziger bis zu den achtziger Jahren, dem Lebensstil also als Dimension einer Lebensform. „Lebensstile sind Ausdruck von Präferenzen, von Vorlieben, von Geschmacksentscheidungen“, aber: „Sie zeigen eine gewisse gruppenspezifische Prägnanz des Zeichengebrauchs.“

Das war schon immer so, neu ist daran nur, daß die Lebensstil-Entscheidungen immer stärker aufgrund einer selbst getroffenen Wahl erfolgen. Das soll aber nicht unkritisch gefeiert, sondern zunächst einmal kultursoziologisch untersucht werden. Ziehe möchte zudem vor überzogenen Angriffen und unnötigen Polarisierungen warnen. Selbststilisierung und Moral sind weder Gegensätze, noch gehörigen sie notwendig zusammen: „Die Wahl eines Lebensstils heißt nicht: Meine Welt wird jetzt schön. Sie heißt aber auch nicht: Jetzt kommt die ,schöne neue Welt‘.“ Anders gesagt: Bloß weil jemand schlecht angezogen herumläuft, ist er deswegen nicht gleich ein moralischer Mensch.

Vorträge dieser Art haben sicher keine Chance, in die Schlagzeilen zu geraten; sie eröffnen uns keinen atemberaubend neuen Ausblick auf die Welt, in der wir leben. Aber solch unvermutete Aha-Erlebnisse können ohnehin nicht jeden Tag produziert werden; sie bleiben Glücksfälle. Kongresse aber, vor allem solche wie die „Aktualität des Ästhetischen“, die sich selbst zu einem Medienereignis stilisieren (allein schon, weil die Podiumsbesetzung zu mindestens 51 Prozent aus Bestsellerautoren besteht), solche Kongresse erwecken immer wieder künstlich die Erwartung, hier werde Unerhörtes geschehen. Und die großen Namen arbeiten kräftig daran mit.

Das beste Beispiel ist Neil Postman, der in gekonnter Entertainer- Manier, eloquent und mit amüsanten Beispielen, auf Entertainer schimpft. Er trägt uns unter dem Titel „Wir informieren uns zu Tode“ einige Abschnitte aus seinem jüngst erschienenen Buch vor: Public relations in eigener Sache. Will man dem Beifall glauben, scheint es eine gute Sache zu sein. Postmans These ist, daß wir der Informationsflut von heute hilflos ausgeliefert sind und allen und jeden Unsinn glauben müssen, weil wir keine „narratives“, keine großen Erzählungen mehr hätten, die unserem Leben und Glauben Struktur geben, an denen wir die auf uns einströmenden Daten messen können: Die großen Weltbilder sind zerfallen. Vielleicht sollte Mr. Postman denn doch öfter mal den Fernseher anschalten. Dann würde ihm vielleicht auffallen, daß die Welt heute so voll von „narratives“ ist wie seit langem nicht mehr — und zwar „narratives“, die zur Waffe greifen. Und wenn er denn auch seinem eigenen Rat folgen würde und hin und wieder ein paar Bücher anderer Autoren läse, dann wäre ihm vielleicht auch aufgefallen, daß nicht die Existenz oder Nicht-Existenz solcher Weltbilder das Problem ist, sondern ob und wie ihre Inhaber sich miteinander verständigen oder zumindest tolerieren können. Dazu braucht er nicht mal bis nach Sarajevo zu fahren; ein Blick auf die religiös-fundamentalistischen Zensur-Bestrebungen in seinem eigenen Land würde genügen.

Apropos Sarajevo. Vor dem allzu freizügigen Gebrauch der geschundenen Stadt als Argument sollte man sich natürlich auch hüten. Wenn Bazon Brock gegenüber Karl Heinz Bohrer einklagt, daß man nun heutzutage in der Kunst den Kontext und vor allem die Lebensumstände, in denen sie entstehen und wirken, nicht mehr ignorieren könne, hat das zweifellos seine gute Berechtigung, aber es ist wohl eher eine billige Pointe, zu behaupten: „Ich bin so braun, weil ich versucht habe, nach Sarajevo zu fahren, um dort Bohrer zu treffen.“ Etwa zur gleichen Zeit hat übrigens auch Paul Feyerabend seinen Vortrag geschlossen, indem er mit den Worten „Das muß ich Ihnen unbedingt vorlesen!“ einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche holte. Es war eben jener Vortrag von Karl Heinz Bohrer, der am Donnerstag schon in der Zeit zu lesen war. „Ein Terror liegt über dem Land. Die Akzeptanz des Ästhetischen“, hebt er an (alles weitere dort nachzulesen), und Feyerabend kommentiert: „Ich habe mich gefragt: Von welchem Land redet der Mann? Von Jugoslawien? ...“

In der Hektik des Kongreßrummels daran zu erinnern, daß es auch noch Fragen gibt, die uns existentieller berühren als die Ästhetik, in welcher Variante auch immer, ist zweifellos ehrenwert, aber als Antwort auf Bohrer ist es eher ein Wortspiel, mit dem man es sich zu leicht macht. Es instrumentalisiert Themen, bei denen man sich des Beifalls sicher sein kann, um den Kollegen, der gerade im medialen Wettkampf die Nase vorn hat, noch einzuholen. Der ist aber uneinholbar, weil längst abgereist. Da hilft es auch nichts, wenn Brock gleich noch an alle anderen Kollegen Noten verteilt und das dann als Kommunikation mißversteht. Bazon als Oberlehrer des Kongresses.

Eine wirklich interessante Form von Gedankenaustausch ist denn in Hannover auch eher da entstanden, wo die Redner einer Sektion mit so glücklicher Hand ausgewählt waren, daß schon die Vorträge selbst miteinander korrespondierten. So etwa am Freitag vormittag, als nacheinander Jean-Christophe Ammann über „Bild und Zeit. Zum Denken der Gegenwart und vom Lesen der Kunst“, Arthur C. Danto über „Kunst nach dem Ende der Kunst“, Thierry de Duve über „Mach, was dir beliebt!“ und Gottfried Boehm über „Der erste Blick. Über Realität als Kunst“ gesprochen haben. Danto beschäftigte sich vor allem mit Gerhardt Richter, Sigmar Polke und Hermann Albert. Er ging noch einmal auf das Verschwinden des jeweils unverwechselbaren Stils, den Einzug des Eklektizismus in die Kunst ein. In den fünfziger Jahren war Abstraktion notwendig, wollte man ein ernsthafter Künstler sein, heute ist sie möglich. Heute kann man morgens ein Abstrakter, mittags ein Realist und abends ein Expressionist sein. De Duve widmete sich der Geschichte dieser „Beliebigkeit“, der Beliebigkeit in der Phase von Courbet bis Duchamp, die vor allem eine der Rezeption war, die mit dem Gefühl des Entsetzens einherging, über das Verlangen nach Aufwertung der Beliebigkeit im Dadaismus bis zur gegenwärtigen Situation, in der das Entsetzen des Publikums in Gleichgültigkeit umgeschlagen ist, einem Gefühl, dem die Kunst entgegenzuarbeiten sucht. Das „Mach, was dir beliebt!“ des Titels ist aber keines der bloßen Erlaubnis, sondern ein kategorischer Imperativ.

Spektakuläres gibt es also nicht zu vermelden. Nur solches, das so erscheinen wollte. Was als Aktualität des Ästhetischen angepriesen worden ist, hat sich eher als Requiem erwiesen. Vieles, was vor zehn Jahren vielleicht aufregend war, hat sich hier noch einmal in saturierter Form dargeboten. Aber was nicht neu ist, muß deswegen ja noch nicht falsch sein, im Gegenteil. Wenn man die eigenen, meist übertriebenen Erwartungen etwas gezügelt hat, wenn man sich nicht vom überzogenen Anspruch der Veranstaltung ins Bockshorn hat jagen lassen, ließ sich vielleicht doch aus dem einen oder anderen der unprätentiöseren Vorträge (und sicher gab es auch davon mehr, als erwähnt werden konnten) mit nach Hause nehmen. Der Korrespondent allerdings schließt jetzt das ästhetische Gegenwartsfenster.

PS.Um dem Prinzip der Prominenz denn doch die pflichtschuldige Referenz zu erweisen, muß noch erwähnt werden: Ferner sprachen Silvia Bovenschen, Richard Sennett, Gernot Böhme, Dietmar Kamper, Humberto Maturana, Jean-Francois Lyotard und viele andere. Die Auswahl der hier erwähnten Redner möchte nicht als Präjudiz für den weiteren Fortgang der Geistesgeschichte mißverstanden werden.

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