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Rußland: Industrie für Reform der Reform

Wenn sich die Kombinats-Direktoren durchsetzen, könnte die Privatisierung verschoben werden  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

„Die russischen Industriellen gehen in ihre letzte und entscheidende Schlacht...“, schrieb das liberale Blatt Nesawissimaja Gaseta anläßlich einer Tagung russischer Industriebosse in Moskau. Die Vertreter der größten Staatsbetriebe machten kein Hehl aus ihrer Antipathie. Sie forderten den sofortigen Rücktritt der Regierung Gaidar, die nach ihrer Meinung die derzeitige wirtschaftliche Malaise zu verantworten habe.

Wie so oft in Rußland blieb es bei der zornigen Geste. Die Schlacht fiel aus, und die Regierung geht weiter ihren Geschäften nach. Der Vorstand des russischen Industriellenverbandes hatte die aufgebrachten Direktoren aus der Provinz, deren Betriebe von Bankrott und Zahlungsunfähigkeit bedroht sind, in letzter Minute zurückgepfiffen.

Zuvor hatten schon die Leiter der staatlichen Energie- und Treibstoffunternehmen die Konferenz unter Protest verlassen. Ihr Sprecher Anatoly Siwak kommentierte, man wolle nicht in einem künstlich geschürten Konflikt zwischen Regierung und Industrie mitmischen. Siwak hatte nicht unrecht. Denn die eigentlichen Initiatoren der Konferenz entstammten den konservativen Reihen des russischen Obersten Sowjets, die seit Monaten mit der Jelzin-Exekutive im Clinch liegen.

Den führenden Herren des „Russischen Industriellen- und Unternehmerverbandes“ war aber gerade nicht an einer ultimativen Konfrontation gelegen. Im Gegenteil: schrittweise Einflußnahme auf die Regierungspolitik streben sie an. Seit dem tumultuarischen Volksdeputiertenkongreß, dem höchsten gesetzgebenden Organ Rußlands, im Frühjahr zeigt diese Strategie zunehmend Erfolg.

Nach eigenen Angaben gehören dem Industriellenverband Direktoren von Staatsbetrieben an, deren Betriebe 1991 65 Prozent des industriellen Outputs geliefert und über 20 Millionen Arbeiter beschäftigt haben. Ein Großteil von ihnen leitet Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes oder wirkt im Landmaschinenbau. Beides Zweige, die schon immer stark subventionsbedürftig waren und sich unter den neuen Bedingungen einer strukturellen Krise gegenüber sehen. Arbeitete der Verband Anfang des Jahres noch mit offenen Drohungen, empfiehlt er sich Jelzin heute als Korrektiv zu den Reformpolitikern um Gaidar.

Es wäre allerdings falsch, den Industriellenverband als einen homogenen Block zu betrachten, der sich grundsätzlich jeglicher Reformpolitik verschließt. Ihr Vorsitzender Arkadi Wolski, graue Eminenz in der russischen Politik, spielte eine maßgebliche Rolle in der „Bewegung für demokratische Reformen“. Zunächst Parteichef eines der gigantischen Moskauer Automobilwerke, avancierte Wolski zum ZK-Mitglied in der Rüstungssektion. Schließlich holten ihn die KPdSU-Generalsekretäre Andropow und Tschernenko zu sich als Wirtschaftsberater. Auch Gorbatschow wollte nicht auf seine Dienste verzichten. Wen wundert es, wenn Wolski heute beklagt: „Der Ärger ist, daß der Mechanismus, der Staat und Unternehmensdirektoren verbindet, verlorengegangen ist.“ Gerade darin einen entscheidenden Reformschritt wahrzunehmen, weigert er sich.

Diese Sichtweise verrät, welche Reform-Modelle von den Industriellen favorisiert werden. Sie stemmen sich nicht geschlossen gegen Umstrukturierungen ihrer Unternehmen. Im Gegenteil, viele Rüstungsmanager sind an Marktbeziehungen interessiert. Bei einer Umstellung auf Konsumgüter, so glauben sie, könnte ihr technologisch vergleichsweise hochentwickelter Sektor seine Spitzenposition auch beim Übergang zum Markt behalten. Widerstand gegen die Konversionspläne leistet eher die Rüstungsverwaltung.

Die Forderungen des Industriellenverbandes entsprechen also eher klassischer Lobbyistenpolitik. In erster Linie kämpfen die Kombinatsdirektoren um Besitzstandswahrung. Sie verlangen einen „organisierten Übergang zum Markt“, in dem der Staat für ausgesuchte Industriezweige eine aktive Subventionspolitik betreibt. Gleichzeitig soll der Staat die Zügel der Kreditpolitik lockern. Bisher konnten die Unternehmen durch gegenseitiges Beleihen und leichten Zugang zu Staatskrediten ihr defizitäres Schaffen immer wieder kaschieren. Zudem halten sie die Steuerpolitik der Regierung Gaidar, die eine 28prozentige Mehrwertsteuer eingeführt hat, für ruinös.

Doch am meisten Industriellen- Kritik erntet das Privatisierungsvorhaben. Ausländische Investoren möchte man am liebsten gar nicht zulassen. Wie sehr die Direktoren auf sich selbst bedacht sind, offenbarte die ernstgemeinte Forderung, Direktoren sollten bei der geplanten Privatisierung 20 Prozent der Aktien für sich allein erhalten. Industrieminister Titkin unterstützt das Anliegen: Der Staat müsse ein Interesse an reichen Direktoren haben.

Welche sozialen Kräfte heute hinter ihnen stehen, läßt sich schwer ausmachen. Die russische Gesellschaft hat sich noch nicht differenziert. Die radikaldemokratische Bewegung „Demokratisches Rußland“ ist zerfallen.

Die Industriellen nutzen dieses Manko aus. Kürzlich schlossen sie sich mit der „Demokratischen Partei Rußlands“ und der „Volkspartei Freies Rußland“ (VFP) zu einem Block zusammen, der „Bürgerunion“. Die VFP führt der zunehmend populäre Vizepräsident Alexander Rutskoi, der sich lange als Gegenspieler Jelzins gerierte. Beide Parteien sind die einzigen Organisationen, die sich mit Fug und Recht so nennen können. Die VFP spricht von etwa 100.000 Mitgliedern, die in ihrer Mehrheit aus den reformorientierten Zirkeln der KPdSU stammen. Rutskoi genießt als ehemaliger Kampfflieger Vertrauen im militärisch-industriellen Komplex und unter Militärs.

Mit der Bürgerunion wächst zum ersten mal eine ernstzunehmende Opposition heran. Mit dem entscheidenden Vorteil, daß sie schon strategische Positionen in der Regierung und im Umfeld bezogen hat. In der Legislative verfügt sie ebenfalls über starke Bastionen. Für den September kündigte die Bürgerunion ein alternatives Wirtschaftskonzept an, das in Zusammenarbeit mit dem Obersten Wirtschaftsrat des Parlamentes entwickelt wird.

Bisher hatte Jelzin versucht, gerade dieses konservative Gremium zu umgehen. Jetzt zeichnet sich im Parlament eine liberalzentristische Koalition ab, auf die sich Jelzin vorsichtig einläßt. Denn die Industriellen und die Bürgerunion fordern nicht den Rücktritt des Präsidenten. Sie verlangen nur eine Korrektur des Regierungskurses in ihrem Sinne. Sollte Jelzin mit seiner derzeitigen Regierung eine Bruchlandung erleiden, könnte er im Rahmen der neuen Koalition weitermachen. Vielleicht wäre man ihm sogar dabei behilflich, seine präsidentialen Sondervollmachten in neue Jahr hinüberzuretten, die andernfalls im Dezember erlöschen würden.

Gelingt es den Industriellen und der Bürgerunion, ihre Forderungen durchzusetzen, bedeutet das nicht das Ende der Reformen, nur das Aus für den Entwurf Gaidars. Die Privatisierung wird dann noch einige Zeit auf sich warten lassen.

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