Vorlauf: Rambo schlägt Goethe
■ "Von Schwachen, die aggressiv werden", ARD, 20.15
Zuhause werden überhaupt keine religiösen Werte mehr vermittelt“, säuselt da eine leidgeprüfte Religionslehrerin ins Mikrophon. Das könnte zu einiger Hoffnung Anlaß geben, doch zu ihrem Problem fällt wahrscheinlich auch dem Heiligen Geist nichts Rettendes mehr ein. In Deutschlands Schulen ist der Teufel los.
Da wird nicht wie in der „guten alten Zeit“ sittsam gerauft, da sind inzwischen Kriminaldelikte an der Tagesordnung. Mit dem Waffenarsenal, das der Direktor einer Essener Schule im Laufe eines einzigen Monats unter seinen Schülern eingesammelt hat, hätte man weiland noch eine komplette Brokdorf-Demo ausrüsten können.
Was die Filmemacherin Yasmina Bauernfeind an Gewaltsymptomen aus dem pädagogischen Alltag zusammengetragen hat, ist wahrlich irritierend. Bei den Delikten unter Jugendlichen, so ihre These, gibt es in jüngster Zeit einen sowohl quantitativen als auch qualitativen Sprung. Und die Täter werden nicht nur zahlreicher und brutaler, sondern auch immer jünger.
Die Qualität ihrer Reportage besteht darin, daß sie weder in dumpfer Panikmache oder billigem Lamentieren versumpft, noch hinsichtlich der Ursachen mit monokausalen Kurzschlüssen aufwartet.
Coole Sprüche, wie sie da verwegene Rambo-Imitatoren ablassen („Wir sind in 'ner Bande, wir machen Gewalt“) sind ein alter Hut. Neu ist allerdings, daß sie's inzwischen auch „machen“. Aber Jugendliche richten ihre Aggressionen nicht nur gegen andere, sondern in zunehmenden Maße auch gegen sich selbst. Allein in der BRD unternehmen schätzungsweise tagtäglich rund 60 SchülerInnen einen ernsthaften Selbstmordversuch. Und wenn ein Zwölfjähriger ohne jede Koketterie von sich sagt: „Ich bin ein Arschloch, ein totaler Versager“, artikuliert sich da ein perspektivloser Frust.
Auf seiten der Pädagogen, die im Film zu Wort kommen, sind Hilflosigkeit und Frust kaum weniger groß. Konfrontiert mit emotionalen und motorischen Störungen, für die der Begriff „verhaltensauffällig“ allenfalls eine niedliche Umschreibung ist, haben sie ihr Ziel der Wissensvermittlung längst abgeschrieben.
Pädagogische Versuche, sich der desolaten Situation zu stellen, sind spärlich, aber immerhin vorhanden. Während ein Berliner Schuldirektor wahrhaftig forderte, angehenden Lehrern mit dem Staatsexamen gleich einen Waffenschein auszuhändigen, müht sich ein Häuflein von Idealisten in Kreuzberg, den dumpfen Aggressionen ihrer SchülerInnen in diversen Projekten andere Artikulationsmöglichkeiten zu eröffnen. Reinhard Lüke
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