piwik no script img

Kohl: Raketen brachten die Einheit

Kanzler gesteht kleine Fehler ein und gibt sich gleichzeitig großes Lob/ In der Haushaltsdebatte sieht Kohl die „Grenze“ für Osthilfe bald erreicht/ Engholm: „Der Kanzler schwebt auf Wolke sieben“  ■ Aus Bonn Hans-Martin Tillack

Mit vorsichtiger Selbstkritik und ungehemmtem Eigenlob meldete sich der Bundeskanzler gestern aus der Sommerpause zurück. In seiner Rede in der Haushaltsdebatte des Bundestages gestand Helmut Kohl erstmals ein, in den letzten zwei Jahren „vieles richtig, aber manches auch falsch gemacht zu haben“. Konkrete Versäumnisse nannte Kohl aber nicht und schränkte außerdem ein, die enormen Probleme seien so „von niemandem“ vorausgesehen worden. Dem ehemaligen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow warf der Kanzler vor, ihm das Ausmaß der Pleite in Ostdeutschland „verschwiegen“ zu haben.

Auf die aktuellen Steuer- und Anleihediskussionen ging der Regierungschef nicht ein. Statt dessen gestattete er sich einen Rückblick auf die „zehn ungewöhnlich guten“ Jahre seiner Regierung. Er ging zurück bis zur Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses im Jahr 1983 und behauptete, ohne diesen Beschluß „hätten wir heute die Einheit nicht, weil die sowjetische Politik einen anderen Weg gegangen wäre“. Das habe ihm auch Michail Gorbatschow bestätigt.

Die „Grenze“ für weitere finanzielle Transfers nach Ostdeutschland sei nun allmählich erreicht, erklärte Kohl. Künftig sei „strikte Sparsamkeit“ der „Dreh- und Angelpunkt“. „Alles“ müsse getan werden, um die Standortbedingungen für die deutsche Wirtschaft zu verbessern. Kohl kritisierte, die privaten Investitionen in Ostdeutschland seien „weit hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben“. Neben dem Ökonomischen sei das „eigentliche Schwierige“ an der deutschen Einheit „das menschliche Miteinander“ von Ost- und Westdeutschen. Hier biete sich ein „gewaltiges Aufgabenfeld für die Kirchen“, aber auch für Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände und „den Sport“. Auf die Parteien dürfe diese Frage „nicht abgeschoben“ werden.

Kohl begrüßte den Kurswechsel der SPD beim Asylrecht, räumte aber gleichzeitig ein, „daß wir über eine Verfassungsänderung allein dieses Problem nicht lösen können“. Weniger nachdenklich äußerte sich der Kanzler zur inneren Sicherheit. Die Zahl der Gewalttaten habe zugenommen, das gelte für „Extremisten von rechts und links“.

Der Kanzler schwebe „wie eh und je auf Wolke sieben“, konterte SPD- Chef Björn Engholm. Die Rede des Kanzlers sei von „Liebe, Glaube, Hoffnung“ geprägt und lasse Antworten „auf die Sorgen und Nöte der Menschen in diesem Land“ vermissen. An den Gesprächen über einen „Solidarpakt“ werde die SPD erst teilnehmen, wenn die Bundesregierung präzise Zahlen und Vorschläge zur Finanzierung der deutschen Einheit vorlege, kündigte Engholm an. Auch SPD-Fraktionschef Hans-Ulrich Klose hatte erklärt, „ein allgemeines Palaver bringt nichts“.

Dem Verfall der ostdeutschen Wirtschaft sehe die Regierung tatenlos zu, kritisierte Engholm. Er verlangte, Staat und Wirtschaft müßten „im Tandem“ Industriepolitik betreiben, bis hin zu „Risikobeteiligungen“ des Staates an ausgewählten ostdeutschen Unternehmen. An die Adresse der Ostdeutschen sagte Engholm, „wir sind nicht die Auserwählten, die besseren Deutschen, wir haben 40 Jahre die besseren Voraussetzungen gehabt“. Die Westdeutschen seien durchaus zum Teilen bereit, sie erwarteten nur, daß es dabei „sozial gerecht zugeht“. CDU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble bescheinigte der SPD in einer Antwort auf Engholm, „immer noch nicht“ zur Regierungsverantwortung fähig zu sein. Er sei „entschlossen“, die Koalition mit der FDP fortzusetzen. Auch der FDP-Chef Lambsdorff legte ein Bekenntnis zur Koalition „mit diesem Bundeskanzler“ ab.

Zuvor hatten Ingrid Köppe (Bündnis 90/Grüne) und PDS-Chef Gregor Gysi dem Bundeskanzler vorgeworfen, den Ostdeutschen vor der Einheit falsche Versprechungen gemacht zu haben. Es sei eine „Lüge“, meinte Gysi, wenn die Bundesregierung behaupte, jährlich 160 Milliarden Mark in den Aufbau Ostdeutschlands zu stecken. Tatsächlich stünden den Ausgaben des Bundes für Ostdeutschland von 91,9 Milliarden Mark Einnahmen aus Ostdeutschland von 79,1 Milliarden gegenüber.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen