Wie einsam und cool ist ein Callboy?

■ Der Trilogie dritter Teil: »Die blaue Stunde« — eine Berliner Ballade von Marcel Gisler

Man erkennt sie schon beim ersten Wort: Wer am lautesten »icke« sagt, beweist damit nur, daß er gerade erst aus der westdeutschen Provinz zugereist ist. Marcel Gisler exilierte vor Jahren aus einem Schweizer Bergdorf in die ehemalige Frontstadt West-Berlin, um hier Regisseur zu werden, als Autodidakt im autonomen Schöneberg. Anders als Fellini kokettierte er nicht damit, daß er immer den gleichen Film mache, heißt sein cineastisches Vorbild doch Jean-Luc Godard. Den gleichen Film macht er trotzdem — zumindest auf den ersten Blick: Immer geht es um den jungen Menschen und die Großstadt im Konfliktfeld zwischen Gefühl und Härte.

Szene West-Berlin: Im ersten Anlauf der Gislerschen Berlin-Trilogie standen die »Tagediebe« noch staunend außen vor, beim zweiten Versuch »Schlaflose Nächte« war man mittendrin, jetzt in der »Blauen Stunde« ist die Szene nur noch da, als eine Selbstverständlichkeit, in der man sich eingerichtet hat. Dabei läßt die Story die schlimmsten Befürchtungen erwarten: Eine Stricher-Geschichte ist der feuchte Stoff, aus dem ansonsten die Außenseiter-Sozialromantik nur so trieft. Doch Callboy Theo, dargestellt von Andreas Herder, spielt gegen den Rest aller Klischees: Er erledigt seinen Job professionell wie ein Busfahrer, ganz im Gegensatz zu seiner Nachbarin Marie (Dina Leipzig), die aufgedonnert wie ein Filmstar im Plattenladen die Kundschaft anraunzt. Dann haut auch noch ihr Freund ab, sie vergißt den Wohnungsschlüssel, und so finden die beiden Nachbarn zueinander. Der Callboy und die Schlampe, das kann nicht gutgehen, ist aber gar nicht die Hauptsache: Jeder lebt für sich allein, und was den Film so umwerfend sympathisch macht, ist nicht seine Geschichte, sondern das äußerst geschickt zusammengesetzte Puzzle aus hervorragend beobachteten Alltagssituationen.

Wenn Theo abends in der Kneipe einen ehemaligen Familienvater abschleppt, ist die ganze Peinlichkeit der Aktion auf den komischen Punkt gebracht. Die Figuren des Films sind ungeheuer lebendig, gerade dann, wenn sie nichts Außergewöhnliches tun: Sie sind und sollten nichts erklären. Die wenigen Szenen, in denen sich der Film in Überbau-Psychologie versucht, fallen deutlich ab: Wie einsam und cool ist ein Callboy? — Wie naiv eine Marie, die alle paar Wochen ihren Freund rausschmeißt und trotzdem an die Liebe glaubt? Viel besser sind die Wechselbäder der Gefühle an ihren Gesichtern abzulesen: Da steht die Coolness neben der Zerbrechlichkeit, die Wut neben der Hoffnung. Am Schluß kommt Maries Freund zurück. »Ist das nicht ein bißchen einfach?« fragt Theo sie. »Nein, das ist sehr kompliziert«, französelt Marie zurück. Kleine Wahrheiten in der großen Welt der »Szene«: Marcel Gislers Figuren sind erwachsener geworden, seine Darsteller richtige Persönlichkeiten, und schöner dazu. Lutz Ehrlich

»Die blaue Stunde«, von Marcel Gisler, bis zum 23.9. um 18 und 22 Uhr im Börse Progress Studio- Kino, um 18 Uhr im Sputnik 2/Südstern, sowie um 22.30 im Kino am Steinplatz.