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Hämorrhoidal-idealisch

Ein Schabernack hätt's werden können: Das Landestheater Tübingen verschenkt Susanne Hinkelbeins Schauspieleroper „Faust III“.  ■ Von Christian Gampert

Erstens. Friedrich Theodor Vischer, gestorben 1887 an Pilzvergiftung, Tübinger Literaturprofessor, schwärmte für Goethens Faust. Allerdings nur für den ersten Teil. In der zweiten, klassisch-walpurgisnachtgeschüttelten Abteilung, machte er nur noch senile Sprachschnörkel und einfältige Allegorien aus. Wahr gesprochen. Doch Vischer, dem gekränkten Goethe-Fan, war sein germanistisches Verdammungsurteil nicht genug: Er schrieb eine Faust-Parodie, „der Tragödie dritten Teil“. Dabei versucht er nicht nur, den Meister vor sich selbst zu retten, sondern in Form einer vor humanistischer Bildung triefenden Persiflage auch gleich der (seiner!) Gegenwart mit den Kopf zu waschen. Ein Knäuel von Anspielungen macht dem heutigen Zuschauer das Leben schwer. Die möglichst detaillierte Kenntnis des zweiten Faust-Teils ist ebenfalls Pflicht.

Zweitens. Andererseits: Der Sprachwitz, den Vischer in seiner Parodie entfaltet, ist bisweilen vom Wahnsinn geküßt. Nicht nur, daß er Faustens Wissensdurst als Bierdurst entlarvt und im Erhabenen ständig das Triviale entdeckt; auch seine paarreimenden Lautmalereien haben die Verrücktheit eines überkandidelten Dada-Opas oder auch eines aufsässigen Gymnasiasten. Ich kann also schon verstehen, warum die Komponistin Susanne Hinkelbein sich ausgerechnet dieses Opus als Vorlage für ihre „Schauspieleroper“ genommen hat: Eine Vielfalt von Formen steht hier zur Debatte, vom Duett bis zum Chor, vom Rezitativ bis zur Arie, von der Unterhaltungsschrumme bis zu antiquarischen Gebilden. Und bereits die Orchestrierung des Ganzen weist darauf hin, daß die Urheberin im bürgerlichen Musikbetrieb unter den Radikalenerlaß fällt: drei Tuben, drei Piccoloflöten. Hölle und Himmel. Basta. Dazwischen ein armseliges Klavier und ein Schlagzeug, wobei der Bediener desselben wie Frank Zappa auszusehen hat.

Drittens. Dem Regisseur Pierre Jean Valentin, am Landestheater Tübingen mit der Uraufführung beauftragt, ist zu diesem musikalischen Historien-Salat nichts eingefallen. Vor allem hat er überhaupt nicht kapiert, daß die Musik hier eine schauspielende Funktion hat, daß sie als Verstärker und Antagonist jenen Sprachwitz erst entfalten soll, der das Goethe-Drama zur Farce, das Erhabene skurril machen würde. Stattdessen tut er so, als sollte er einen bunten Abend fürs ZDF inszenieren; im Vordergrund grummelt ständig die Musike, eine Nummer nach der anderen, und plärrt die Texte zu. Lachen kann da keiner mehr.

Viertens sei die Frage erlaubt, für wen das Spektakel denn nun gedacht ist: für alternde Studienräte, die ein bißchen quere Bildung suckeln möchten? Für amüsierwillige Teenager mit Sinn für Masochismus? Als ich das Stück vor acht Jahren zum ersten Mal sah, lag die sogenannte Friedensbewegung in den letzten Zügen. Aber immerhin machte die Trivialisierung des Faust-Mythos (Vischer: „Das Physikalische wirkt öfter aufs Moralische“) damals noch Sinn. Heute trifft das Stück auf ein gesellschaftliches Vakuum: Faust auf dem Klo, das langweilt uns so. Pierre Jean Valentins krampfhafte Versuche, die treudeutschen Prüfungen und Läuterungen der Hauptfigur durch Fellini-Zitate und neckische (B-)Analerotik aufzupeppen, sind belangloser Hokuspokus auf unaufgeräumter Bühne. Der Weg hinab zu den Müttern ist eher eine Reise zu den schrecklichen Schwiegermüttern, die allesamt aussehen wie Charleys Tante im Sommerschlußverkauf. Euphorion erscheint als bayerischer Ikarus, ein Barockengel pißt aus dem Bühnenhimmel und Gott liegt im Koma. Die Schulszene ist eine Feuerzangenbowle für die Provinz, Verbindungsbrüder singen den Kotz-Choral, Kleriker exaltieren sich, Gretchen trägt Dirndl und Faust Lodenmantel (so sind sie dann auch). Das deutsche Schulmeisterlein und seine Barbie-Puppe: Ein bißchen Selbstverarschung scheint dem LTT schon die halbe Therapie. Daß Faustens Zeigestock ein Blindenstock ist, scheint dann mehr auf die Mühen dieser Inszenierung hinzuweisen.

Fünftens. „Es bleibt vom Antiken nur die Form“, sagt Vischer. Form hat in Tübingen nur die Musik, der Rest ist ein albernes Durcheinander. Susanne Hinkelbein hat den Figuren akustische Codes beigegeben (Mephisto hinkt im Fünfvierteltakt), sie verwendet Kuhglocken und Knallplätzchen, sie plündert die Schatzkisten von Oper, Schlager, Melodram — und findet doch nicht das Magnetfeld, das den Abend zentrieren würde. Es bleibt eine Nummernrevue. Der Klassencharakter des Faust-Stoffs wird bei ihr durch ein paar Eisler-Anklänge, bei Vischer durch eine Figur aus den niederen Ständen herbeizitiert, die den gelahrten Faust beschützen muß: Valentin heißt der Mann aus dem Volke, er ist nicht identisch mit dem Regisseur, sondern wird von Max de Nil als behaartes Küfer-Urvieh auf die Bretter gestellt, derweil Gotthard Sinn als Mephistopheles wie düsengetrieben über die Bühne rast. Faust und Gretchen (Harry Nehring und Sabine Martin) sind nur bunt angemalte Schatten ihrer selbst.

Sechstens. Maximaler Aufwand, kleinstmögliche Wirkung: Während Kleinbürger Faust noch ums „höchste Weltsymbol“ und „die Weltwurst“ herumschwenzelt, gibt sich der „Chor der höllischen Geister“ als Turnriege der Gartenzwerge zu erkennen, ein Ballett der Mainzelmännchen. Das soll den Horizont des untätigen deutschen Volkes abstecken, das gelangweilt in den Theatersesseln klebt, hat aber wohl auch mit dem Geist dieser Aufführung zu tun — man bekommt beim Zuschauen darob ein wenig Bauchgrimmen. Jedoch: „Vom Hämorrhoidalen zum Idealen“ gehe der Weg der Prüfungen, wußte schon Vischer. Das LTT ist da irgendwo steckengeblieben.

Landestheater Tübingen: „Faust, der Tragödie dritter Teil“. Oper für Schauspieler von Susanne Hinkelbein nach Friedrich Theodor Vischer. Regie: Pierre Jean Valentin. Bühne: Matthias Karch. Musikalische Leitung: Michael Xander. Nächste Vorstellungen: 15.9. (Reutlingen); 17.9. (Schwäbisch Hall), 30.9. (Tübingen)

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