piwik no script img

Die fremde Republik

Daß so viele ostdeutsche Bundesbürger in einem völlig fremden Land angekommen sind, liegt unter anderem daran, daß sie sich seinerzeit über dieses Land vom Werbefernsehen informieren ließen. Wer hören und sehen wollte, konnte auch damals, als der Westen noch Westen und der Osten noch Osten waren, erfahren, daß da im fernen, vergoldeten Westen auch Armut war und Arbeitslosigkeit. Aber hielten wir das nicht alle nur für die arme Ausnahme von der reichen Regel? Solange Arbeitslosigkeit außerhalb der eigenen Möglichkeiten liegt, hat sie immer etwas mit Faulenzen zu tun. Mein Sohn sagte noch wenige Wochen, bevor er selbst arbeitslos wurde, diesen Hauptlehrsatz des noch nicht gekündigten deutschen Arbeitnehmers: „Wer arbeiten will, der findet auch Arbeit.“ Allen meinen ostdeutschen Landsleuten, die sich, gleich als das möglich war, die „Tausend ganz legalen Steuertricks“ anschafften, empfehle ich ein zweites Buch, das — anders als die Steuertricks und die restlichen marktwirtschaftlichen Ratgeber — nicht zu den Standardwerken bundesdeutscher Buchproduktion gehört: „Anschluß verpaßt — Armut in Deutschland“ von Gabi Gillen und Michael Möller.

Hier erfahren wir fast alles, was wir von dieser Bundesrepublik nicht wissen wollen. Wir sehen in die vielen häßlichen Gesichter der Armut im schönen reichen Deutschland. Armut ist auch im wohlhabenden Westen kein „Glanz von innen“. Auch da riecht sie schlecht und macht den Westdeutschen genauso aggressiv und depressiv wie den Ostdeutschen. Wieviele Wege nach unten führen, muß auch der erfahren, der sich noch oben wähnt. In diesem Land der unbegrenzten Möglichkeiten kann der Millionär zum Tellerwäscher werden — der umgekehrte Fall dürfte seltener sein.

Anders als die meisten Berichte im Fernsehen hält sich das Buch kaum beim medienwirksamen Elend von S-Bahnsurfern und Autocrashern auf. Wir sehen der Armut in ihr gar nicht sensationelles Alltagsgesicht. Die anonymen Statistiken, die einen erschrecken, die man aber auch schnell vergißt, kommen auch vor. Aber ich erfahre nicht nur, was wir theoretisch immer mal wieder hören, sehen und lesen — wie hoch oder niedrig Sozialhilfe sein kann, wieviele Deutsche oder in Deutschland lebende Ausländer sie erhalten, wie hoch der Frauenanteil ist... Ich erfahre am Einzelschicksal, was diese Zahlen bedeuten, wie Leben durch Armut zerstört wird. Da ist die alleinstehende Mutter, die so verbissen wie vergeblich gegen den weiteren sozialen Abstieg, gegen das Abgleiten ihrer Kinder in die Asozialität kämpft. Es ist ein Schreikampf, den sie mit dem Sozialamt ausficht mit den kleinen Siegen und der unabwendbaren Niederlage.

Die Armut in Deutschland, das sind hunderttausende Einzelschicksale, in denen sich eigenes Versagen mit dem Versagen einer ganzen Gesellschaft mischt. Arm sind eben nicht nur die Nichtstuer, sondern oft, viel öfter Leute, die sich ihre Arbeitskraft mit Arbeit ruiniert haben. Armut ist keine Fremde in Deutschland, sie wird aber so behandelt. Wir hassen sie, wie alles, was uns Angst macht. Und sie haßt sich selbst wohl am meisten. Wir versuchen die Augen vor ihr zu verschließen wie Kinder das tun, um selbst nicht gesehen zu werden. Noch versteckt sich auch die Armut, und wenn sie sich wehrt, dann gegen die noch Ärmeren. Und wir noch nicht Armen sind empört über so viel blindwütigen Haß auf Ausländer im allgemeinen und Asylbewerber im besonderen. Wenn wir etwas gegen Armut tun wollen, müssen wir es tun, solange wir noch reich sind. Wer den Anschluß erst einmal verpaßt hat, kann sich nicht mehr wehren. Deshalb schlägt er auf seinesgleichen ein statt auf uns. Peter Ensikat

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen