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„Mein Leben hat einen Wert!“

Zweiter Weltkongreß der Strahlenopfer in Berlin/ Atomfolgen werden weltweit vertuscht  ■ Aus Berlin Annette Jensen

Die Ärmel von Karipbek Kuikovs Jacke sind leer. Langsam betritt er die Bühne, die Dolmetscherin hilft ihm auf ein Tischchen; nur so kann der 24jährige über das Pult gucken. Kameraleute eilen herbei, als er mit der Stimme eines Kindes zu sprechen beginnt: „Mein Leben hat einen Wert!“ 100 Kilometer von dem Atomtestgelände in Semipalatinsk entfernt lebt Kuikov mit seinen Eltern; es gibt in der Gegend keine Familie ohne Strahlenopfer. Vor einiger Zeit hat er sich der Anti-Testgelände-Bewegung angeschlossen, die inzwischen eine Beendigung der Atomversuche erreicht hat. Darauf ist er stolz. Jetzt ist er nach Berlin gekommen, um Mut zu machen und an einer Resolution für eine atomfreie Welt mitzuarbeiten.

Rund 350 Delegierte treffen sich seit Sonntag im Haus der Kulturen der Welt zur 2. Weltkonferenz der Strahlenopfer. Ihr aller Leben ist geprägt durch eine Entwicklung, die in Berlin ihren Ausgang nahm: 1938 spaltete Otto Hahn hier erstmals einen Atomkern. Sie sind Opfer militärischer Experimente oder ziviler Reaktorunfälle, sie leben im Umfeld von Uranminen oder Endlagern — und fast immer haben ihre Regierungen versucht, ihr Schicksal zu vertuschen: Ausgrenzung statt Hilfe. Mehrere RednerInnen berichten von Freunden, die zu der Konferenz mitkommen wollten, aber inzwischen durch Krebs ans Bett gefesselt oder gestorben sind.

Anders als bei der ersten Weltkonferenz in New York vor fünf Jahren sind diesmal auch viele VertreterInnen aus der ehemaligen UdSSR und aus China angereist. Nicht WissenschaftlerInnen stehen bei der Konferenz im Zentrum, sondern die Erfahrungen und Forschungen der Betroffenen; viele möchten schon am ersten Abend berichten. In fast liebevollem Ton verweist Generalsekretär Stephan Dömpke auf die Veranstaltungen bis nächsten Freitag.

Kim Jung Soon ist aus Korea angereist. Sie verbeugt sich vor den Zuhörern, dann stürzen die Worte aus ihr heraus. 1937 wurde sie als Zwangsarbeiterin nach Japan verschleppt, sie mußte jahrelang im Bergbau schuften. Sie hungerte. Im Sommer 1945 fuhr sie nach Nagasaki, um Lebensmittel von einer Cousine zu holen. Auf dem Bahnhof erlebte sie die Atombombenexplosion, sie wurde ohnmächtig. Kim Jung Soon weint, aber sie will erzählen. Sie hat ihr Kind verloren, in Nagasaki — und später auch alle anderen. Die Japaner haben sie zwangsweise in die Heimat zurückgeschickt, so wie sie sie einst geholt hatten. Bis heute hat die 74jährige keine Entschädigung bekommen — weder von Japan noch aus den USA.

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