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Die Freude hält sich in Grenzen

■ Was soll man groß feiern, wenn zwischen dem Ja und dem Nein nur 500.000 Stimmen liegen? Entsprechend gedämpft war am Abend nach der Volksabstimmung zu den Maastricht-Verträgen die Stimmung bei...

Die Freude hält sich in Grenzen Was soll man groß feiern, wenn zwischen dem Ja und dem Nein nur 500.000 Stimmen liegen? Entsprechend gedämpft war am Abend nach der Volksabstimmung zu den Maastricht-Verträgen die Stimmung bei Frankreichs Europa-Befürwortern. Am selben Abend noch nahm vor allem die konservative Opposition die Wahlen vom März 1993 ins Visier.

Eine Handvoll Jugendlicher läuft jubelnd über den Place de la Concorde. „Wir haben gewonnen, Europa lebe hoch!“ rufen sie freudestrahlend und schwenken das europäische Sternenbanner. Drei Autos hupen zustimmend — mehr als diesen bescheidenen Beifall ernten die vereinzelten Europa-Fans in dieser Nacht nicht. Ein Taxifahrer bestätigt: „In Paris wird heute nirgends gefeiert, die Zeit der großen öffentlichen Begeisterung für die Politik ist längst vorbei.“ Was soll man auch feiern, wenn zwischen Ja und Nein nur 500.000 Stimmen (51 Prozent stimmten mit Ja, 49 mit Nein — bei 70 Prozent Wahlbeteiligung) liegen und selbst zahlreiche Familien in Sachen Maastricht gespalten sind? Entsprechend gedämpft ist die Stimmung in den Parteizentralen; bei den Sozialisten in der Rue Solferino wie bei den Grünen, die sich ein paar Meter weiter im Pariser Büro der grünen Europaabgeordneten am Boulevard Saint-Germain treffen, sind nur wenige Parteimitarbeiter versammelt. Sie alle starren auf die Fernsehschirme, denn da findet die eigentliche Diskussion statt.

Wirklich gelöst und heiter wirkt nur der liberalkonservative Oppositionschef Giscard d'Estaing, als er sein Statement abgibt. „Mein einziges Ziel war das Ja zu Maastricht. Ich habe es erreicht“, sagt er. Gaullisten- Chef Chirac begrüßt, daß „dem Volk das Wort gegeben wurde“. Sein innerparteilicher Kontrahent Séguin betont, er werde den Kampf gegen Maastricht bis zum Ende fortführen. Der Chef der rechtsextremen Front National, Le Pen, spricht in gewohnt kämpferischem Ton vom Pyrrhus- Sieg: „Frankreich hat eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg“, erklärt der Maastricht-Gegner. Der sozialistische Parteichef Fabius kann es sich nicht verkneifen, von einem „Sieg des Präsidenten“ zu sprechen. Damit gibt er seinen Gegnern das Stichwort: Nachdem viele bürgerliche Oppositionspolitiker in der Maastricht-Debatte an der Seite der Sozialisten für das Ja gekämpft haben, ergreifen sie jetzt die Gelegenheit, sich klar abzugrenzen. Die frühere Präsidentin des Europaparlaments, die konservative Politikerin Simone Veil, kontert: „Gewisse Leute sollten lieber bescheidener triumphieren.“ Der Generalsekretär der Zentristen, Bayrou, ruft ebenfalls zur Einkehr auf: „Das Ergebnis signalisiert ein tiefes Unbehagen in der französischen Gesellschaft.“ Und Ex- Premierminister Barre erklärt: „Jetzt müssen wir die Sorgen und Fantasmen der Bürger zerstreuen.“ Anders als Fabius tritt Präsident Mitterrand nicht triumphierend, sondern versöhnlich vor die Kameras. Er spricht von einem Erfolg für Frankreichs und Europas Zukunft und betont, nach der Abstimmung gebe es weder Sieger noch Besiegte.

Vier Gründe haben laut Umfragen das Nein zu Maastricht bedingt: die Sorge vor dem französischen Souveränitätsverlust, Widerwillen gegen die Brüssler Technokraten, die Sorge vor Deutschland und Abneigung gegen Präsident Mitterrand. Zur Zustimmung bewogen hat die Franzosen die Hoffnung, daß die europäische Einigung den Frieden in Europa sichert, der Wunsch, die europäische Konstruktion nicht zu bremsen, und die Überzeugung, daß nur die Union eine Antwort auf die Konkurrenz der USA und Japans bietet. Zur Beruhigung der Maastricht- Gegner erklären alle Befürworter an diesem Abend, sie hätten die Botschaft verstanden. „Morgen können wir nicht mehr so wie gestern zum Land sprechen“, sagt Regierungschef Bérégovoy. „Ich sage allen ohne Ausnahme: die Regierung hat Sie verstanden.“

Die Diskussionen am Wahlabend waren dennoch eher ein schlechtes Omen. Denn die Ängste der Maastricht-Gegner spielten eine untergeordnete Rolle. Und auch die Frage, welche konkreten Konsequenzen die massive Ablehnung des Vertrags für Europa haben wird, wurde rasch vom innenpolitischen Geplänkel verdrängt. Als nächste Herausforderung nahmen insbesondere die konservativen Oppositionsführer die Parlamentswahlen ins Visier, die im März anstehen. „Das Ja wäre klarer ausgefallen, wenn die Wähler alle innenpolitischen Erwägungen abgezogen hätten. Jetzt brauchen wir eine andere Politik und einen Regierungswechsel“, erklärte Giscard d'Estaing. Zunächst müssen sie jedoch mit ihren eigenen Truppen ins reine kommen, die ebenfalls von der Maastricht-Debatte gespalten wurden: 58 Prozent der RPR-Anhänger stimmten im Gegensatz zu ihrem Parteichef Chirac mit Nein, bei Giscards UDF fühlten sich 38 Prozent nicht an die Parteidisziplin gebunden. RPR-Chef Chirac will sich daher am Mittwoch einem Vertrauensvotum seiner Partei aussetzen, um die Wahlen aus einer unumstrittenen Position heraus vorbereiten zu können. Bettina Kaps, Paris

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