: Urteilsfindung mittels TED
Live aus dem Gerichtssaal: Über Fernsehkanäle und Prozesse in den USA ■ Aus San Diego Tobias Bange
San Diego, Superior Court: Der Verteidiger Ron Hubbards darf zufrieden sein. Statt der vom Staatsanwalt geforderten 92 Jahre wegen achtfacher Vergewaltigung und bewaffneter Überfälle kann er 56 Jahre für seinen Mandanten als Erfolg verbuchen. Für den heutigen Tag hat sich der Anwalt mit viel Make-up präpariert, denn eine schweißperlige Stirn ist einem an Schönheitsidealen orientierten Publikum nicht zuzumuten — schließlich sitzen die Adressaten seines Plädoyers nicht nur im Gerichtssaal: Zwei Millionen Fernsehzuschauer in San Diego und Umgebung bekommen nur wenige Minuten nach Verhandlungsende die Höhepunkte des Tages in geraffter Form präsentiert. In den Hauptrollen: ein grauhaariger weiser Richter, ein weinender Angeklagter und ein trauerndes Opfer.
Der Courtroom als Showroom. Der Richter erlaubt sogar manchmal, daß ein kleines Richtmikrofon an seinem Talar festgemacht wird. Während des Urteilsspruchs halten dann 20 surrende Fotokameras alle emotionalen Regungen des Angeklagten fest. Daß damit der Gang der Verhandlung manipuliert werden könnte, halten die meisten Richter für ausgeschlossen. Vorschriften erlauben eine Fernsehkamera und die Ausleuchtung des Gerichtssaals. Bilder von der Jury, die durch öffentlichen Druck beeinflußt werden könnte, sind hingegen verboten. Doch gerade im amerikanischen Gerichtssystem, in dem die Geschworenen einstimmig über Schuld oder Unschuld befinden müssen, in manchen Fällen sogar über Tod oder Leben des Angeklagten entscheiden, ist das der wunde Punkt. „Wir verbieten der Jury, die Berichte über einen Fall in Zeitungen oder im Fernsehen zu verfolgen. Es gibt die klare Anweisung, per Fernbedienung umzuschalten, falls über den aktuellen Fall berichtet wird.“ Daß dies schwer zu kontrollieren ist, räumt der Richter Norbert Ehrenfreund jedoch ein.
Immer mehr orientieren sich die Verteidiger an den Erfordernissen telemedialer Vermittlung, denn sie sind besonders abhängig von Ruhm und damit Geld. Bei den Reportern von Channel10, einem lokalen Sender in San Diego, gibt es daher auch klare Präferenzen für bestimmte Staatsanwälte und Verteidiger. Man liebt diejenigen, deren knappe und daher leicht konsumierbaren Statements ungekürzt gesendet werden können. In 44 amerikanischen Bundesstaaten ist die Teleberichterstattung aus Gerichtssälen erlaubt. Viele Medienleute, aber auch Richter wie Arthur Jones an San Diegos Superior Court halten es für elitär, die Gerichtssäle den „öffentlichen Augen“ zu verschließen. „Schließlich kann auch jeder Bürger im Gerichtssaal sitzen.“ In einer Gesellschaft, die keine Gartenzäune kennt und in der die Intimsphäre von Politikern nationale Verhandlungssache ist, soll auch die Welt von Opfern und Tätern optimal präsentiert werden. Da ist man sich vom Christian Science Monitor, der in bewährter protestantischer Tradition die Offenlegung aller Sünden fordert, bis hin zur liberalen Washington Post einig. Und solange die Gerichtsprozesse sich in ihrem Timing nicht nach den wiederkehrenden Commercials richten, sieht kaum jemand die Seriosität eines Verfahrens gefährdet.
So feierte dieser Tage ein Sender sein einjähriges Jubiläum, der sich allein auf diese Form der ZuschauerInnenunterhaltung spezialisiert hat: Court TV. Live-Berichte aus den Gerichtssälen. 24 Stunden täglich. Die Rechnung scheint aufzugehen, wachsende Einschaltquoten sprechen dafür, und der Moderator, Fred Graham, liegt in der Beliebtheitsskala mittlerweile in der Nähe von Bill Clinton. Wie in einem antiken Drama werden die einzelnen Stationen, die zum Täter- oder Opferdasein führten, medial präsentiert. Falls die endlose ZeugInnenbefragung langweilig werden sollte, schaltet sich der Moderator ein und rekapituliert die wichtigsten Ergebnisse des Tages und Höhepunkte des Prozesses. Nur von einem sind die ZuschauerInnen noch ausgeschlossen, was aber im Sinne demokratischer Entscheidungsfindung nur konsequent wäre: die Urteilsfällung mittels TED — „Ladies and Gentlemen, the case ist now in your hands.“
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