piwik no script img

Kathedralen in der Wüste

■ Im Osten liegen Boom und Elend nahe beieinander, wie das Beispiel Eisenach zeigt

Kathedralen in der Wüste Im Osten liegen Boom und Elend nahe beieinander, wie das Beispiel Eisenach zeigt

In kaum einer anderen ostdeutschen Stadt sind in den letzten beiden Jahren so viele Grundsteine gelegt worden wie in Eisenach. Namhafte Firmen wie Opel, BMW oder Bosch haben die Wartburg-Stadt als idealen Investitionsstandort im Osten ausgemacht und dort neue Fabriken hochgezogen. Allein eine Milliarde Mark ließen sich die Rüsselsheimer Autobauer die wohl modernste Autoproduktionsstätte Europas kosten, wo nach dem japanischen Vorbild der schlanken Produktion mit ganzen 2.000 Beschäftigten jährlich rund 150.000 Wagen zusammenmontiert werden. Umweltschützer haben schon zu DDR-Zeiten gegen die Industrieansiedlungen im idyllischen Hörsel-Tal protestiert — doch was spielt das schon für eine Rolle, wenn es um Arbeitsplätze geht?

Eisenach, die Boom-Town im Osten, als Keimzelle des Aufschwungs? Der Schein von dem kleinen Wirtschaftswunder in Thüringen trügt. Von jener blühenden Industrielandschaft, die der Kanzler so gerne im Mund führt, ist in Eisenach und drum herum nicht viel zu sehen. Ebenso viele Schilder wie zu den neuen Fabriken weisen die Richtung zum dortigen Arbeitsamt. Jeder fünfte Erwerbstätige findet sich in der offiziellen Arbeitslosenstatistik wieder — mehr als im ohnehin hohen Thüringer Landesdurchschnitt. Was Eisenach lehrt, sind die Folgen einer ungleichen Kapitalverteilung: Der Abstand zwischen hochmodernen Industrieanlagen, wie sie im Osten mancherorts entstehen, und den museumsreifen Kombinatsüberresten wird immer größer. Die Investitionspolitik der westdeutschen Autokonzerne, in den neuen Ländern verlängerte Werkbänke auf die grüne Wiese zu setzen, haben die Forscher des Wissenschaftszentrums Berlin einmal sehr treffend als Kathedralen in der Wüste bezeichnet. Ein, zwei Leuchttürme — und drum herum gehen die Lichter aus. Boom und Elend liegen nahe beieinander: Wer einen Arbeitsplatz ergattern kann, zählt zu den Gewinnern und darf sich berechtigte Hoffnungen auf den westlichen Lebensstandard machen, der Rest muß derweil in die Röhre schauen. Die Gesellschaft im Osten befindet sich dadurch auf einem gefährlichen Weg: Ihr droht die Spaltung in zwei Klassen.

Für die Misere im Osten gibt es sicherlich vielerlei Gründe — von den weggebrochenen Ost-Märkten über die investitionshemmende Eigentumsregelung bis hin zu den Milliardentransfers mit der Gießkanne. Doch kaum ein Politiker, Unternehmer oder Gewerkschafter zerbricht sich den Kopf darüber, was mit dem Arbeitslosenheer geschehen soll. Alle halten sie lieber weiter an der Illusion des Aufschwungs Ost fest. Erwin Single

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen