: Der schwere deutsche Herbst
■ Wohl kaum eine andere Jahreszeit regt die Menschen so sehr zum Tief-in-sich-Gehen an/ Gedanken darüber, warum der Herbst gerade in Deutschland am besten aufgehoben ist
Wohl nirgendwo auf der Welt wird um den Herbst ein solches Brimborium veranstaltet wie in Deutschland. Der Herbst muß für alles und jedes herhalten: Unzählig sind die Gedichte, mit denen er melancholisch-heiter besungen wird, unzählig die Menschen, die ihm ihre Nackenschläge anlasten. Es scheint, als dürfe erst dann die deutsche Seele so richtig an Gewicht zulegen. Menschen ziehen auf einsamen Spaziergängen Bilanzen und der Friedhof wird für manch Lebenden zum allerliebsten Ort, wo sich Gedanken schwer über Grabplatten erheben.
Ein ganzes Land, ein ganzes Volk atmet am Ende des Sommers auf. Endlich darf der chronisch schlechten Laune, die nur mühsam während der wärmeren Tage unterdrückt wurde, freien Lauf gelassen werden. Die U-Bahnen, Straßenbahnen und Busse füllen sich mehr denn je mit schwitzenden Leibern, und das: »Zurückbleiben!« des BVG-Ansagers klingt noch preußischer als sonst. Ist es da noch verwunderlich, wenn die Misantrophen den Herbst lieben?
Auch sonst normalisiert sich das Leben in einem Land, in dem der Sommer eher wie ein Versehen wirkt. Mit den ersten kühleren Tagen füllen sich wieder Cafés und Kneipen, ebenso Kinos und Buchläden. Der geschlossene Raum wird erneut zur Wabe, zum allerliebsten Ort, wo die Innerlichkeit ihre Auferstehung feiert. Es ist wie verhext: Wenn die ersten Blätter fallen und der nasse Asphalt der Straßen glänzt, blicken viele Menschen tief in sich hinein und entdecken plötzlich ein großes, dunkles Loch. Flugs füllen sich die Seminare der Volkshochschulen mit Gestalten, die sich gegenseitig Trost spenden. Selbst mancher Pfarrer darf sich über ein Schäfchen mehr freuen, dessen Seele behandelt werden will. Sorgentelefone stehen nicht still, weil Nebelschwaden so manch klare Erkenntnis bringen.
Ja, der Herbst, er macht es den Menschen in diesen Gefilden tatsächlich nicht leicht. Gleichermaßen mißmutig ziehen Frauen und Männer die dicken Mäntel und Jacken aus den Schränken, wird der Körper wieder zur Unform. Auch sonst hört man nur Klagen: Segler, zumal die männlichen, fluchen, weil das Ende einer sorgenfreien Zeit eingeläutet wird. Vorbei sind die Tage, an denen nur das geliebte Boot und der flüsternde Wind zählten. Nun heißt es Abschied nehmen und zurückkehren zu Heim und Familie, zu schreienden Kindern und ehelichen Pflichten.
Abgesehen von solch individuellem Schicksal hat der Herbst hierzulande noch eine zweite, beinahe metaphysische Ebene. Gibt es eine bessere Jahreszeit, um sich tiefgründigen Überlegungen hinzugeben? Es gehört zu den Eigenarten dieses Landes, daß gerade der Herbst mit der Geschichte verwurzelt ist wie in keinem anderen Teil der Erde. In Frankreich etwa fällt der Nationalfeiertag auf den 14. Juli. Während dieser frische Sommertag an die historischen Errungenschaften der französischen Revolution erinnert, wirken die historischen Daten des deutschen Herbstes — bei genauerer Betrachtung — so dunkel wie die Jahreszeit selbst. Exemplarisch sei an dieser Stelle nur der 9. November genannt. Gleich viermal bemühte ihn bisher die Geschichte: Die gescheiterte deutsche Revolution von 1918, der Putsch Hitlers 1923, die Pogrome gegen jüdische Bürger 1938 und der Fall der Mauer 1989. Von letzterem Ereignis weiß noch niemand so recht vorherzusagen, welche Etappe der deutschen Geschichte er eingeläutet hat. Angesichts brennender Asylheime kommen manchem Betrachter schon jetzt Zweifel, ob der 9. November 1989 ein weiteres Glied in der Kette deutscher Verhängnisse ist. Wohlgemerkt: Einen heiteren Herbst hat und wird es nie geben — das schließt allein die Natur aus. Doch in Deutschland, so scheint es, ziehen Regen und Kälte geradezu magisch die Historie an.
Da wir gerade im herbstlichen Philosophiediskurs sind: Es gibt einen Film, der diesen Zustand am treffendsten charakterisiert: »Deutschland im Herbst«. Die Gemeinschaftsproduktion von Alexander Kluge und anderen deutschen Regisseuren handelt von den Ereignissen des Jahres 1977, von Mogadischu und Stammheim. Es waren Monate, die die bundesdeutsche Gesellschaft nachhaltig veränderten. Die Ironie der Geschichte will es, daß der Autor dieses von herbstlichen Stimmungen durchtränkten Beitrages in einer Zeitung schreibt, deren Wurzeln in das Jahr 1977 zurückreichen. Schließlich waren es die politischen Auswirkungen jenes trüben Herbstes, die zwei Jahre später zur Gründung der tageszeitung führten. Severin Weiland
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