: Italien vor neuem „heißen Herbst“
Schwere Zwischenfälle bei Gewerkschaftskundgebungen — und keineswegs alle sind „Provokateuren“ zuzuschreiben ■ Aus Mailand Werner Raith
Giorgio Voltan, seines Zeichens Börsenmakler, fühlt sich trotz seiner erst 51 Jahre „schon ziemlich in die Jahre gekommen“. Doch daß „ich das noch erleben darf, dafür bin ich dem Schicksal regelrecht dankbar“: Auf seinem Weg zur „Piazza affari“, der Mailänder Börse, mußte er durch eine von Hunderttausenden besuchte Arbeiterdemonstration gegen die von der Regierung angekündigten massiven Einschnitte ins soziale Netz — und konnte aus der Nähe zuschauen, wie sich der Zorn dann weniger gegen die Administration als vielmehr gegen die Bosse der Vereinigten Großgewerkschaften entlud. Führer der ehemals kommunistischen, jetzt den „Linksdemokraten“ nahestehende CGIL, der katholischen CISL und der sozialistischen UIL mußten im Schweinsgalopp davonlaufen — überschüttet mit faulen Tomaten und stinkenden Eiern, einem Hagel von Münzen (Zeichen für Korruptionsverdacht) und harten Walnüssen, deren grüne Schalen die Menschenhaut schwarz einfärben. Für Giorgio Voltan eine „ganz natürliche Reaktion“: schließlich hat die versammelte Gewerkschaftsspitze am 31. Juli dieses Jahres mit der Regierung Vereinbarungen ausgemauschelt, die selbst die Ärmsten um Jahrzehnte zurückwerfen, angeblich um die Stabilität des Landes und den Eintritt in die EG nicht zu gefährden — und jetzt tun sie so, als hätten sie damals gar nicht mit am Tisch gesessen.“
Die neue Protestbewegung war vorauszusehen — und kam, zumindest für die herrschenden Schichten, doch völlig überraschend. Die Steuer- und Abgabenerhöhungen zur Deckung der immer größeren Haushaltslöcher, die Zerstörung auch der letzten Fetzen des sowieso schon ramponierten sozialen Netzes — bis hin zur totalen Eliminierung der allgemeinen staatlichen Krankenfürsorge und der Rentensicherheit — haben offenbar zu dem Punkt geführt, wo auch der letzte Geduldsengel platzt. Seit mehr als anderthalb Jahrzehnten haben die Piazze nicht mehr so viele unzufriedende Demonstranten gesehen; und nur wenige kommen ohne Ausrüstung: Trillerpfeifen, Kochtopfdeckel ist das Mindeste, was sie mitbringen. Und auf einmal „trifft man links und rechts alte Bekannte“, so der ehemalige Gewerkschafts-Sektionschef Sando Sigillato, „und hört, daß die auch alle aus der Gewerkschaft raus sind, und die Wut auf diese Großkopfeten wächst.“
Das macht die Behauptung der Gewerkschaften ebenso wie die von Innenminister Mancino recht unwahrscheinlich, wonach „nur ein paar Dutzend oder allenfalls einige Hundert meist zugereister Provokateure, vor allem ,Autonome', für alles verantwortlich seien. Mag sein, daß einige Faustschläge gegen Trentin in Florenz von wiedererweckten „Autonomisten“ kamen: doch wer mit den Arbeitern in Mailand, in Verona, in Neapel oder Palermo spricht, hört allenfalls, daß man „nicht gerade mit Steinschleudern, gegen die Bosse vorgehen solle“ — aber sonst alles erlaubt sei: „Der Verlust an Legitimation der Gewerkschaftsführer“, so der Ex-Gewerkschafter Sandro Sigillato, „steht der der Politiker nicht im mindesten mehr nach: zu viele Kungeleien, zuviel Staatsbewußtsein für einen Staat, der im Innersten verfault, unzuverlässig, unfähig ist.“
Der Zustand heute ähnelt fatal dem Mitte der siebziger Jahre: die Regenten sind unfähig, dem Volk zu erkläören, wofür es bluten soll, rosige Perspektiven, ein Wirtschaftsaufschwung, soziale Verbesserungen sind nicht in Sicht, dafür aber eine galoppierende Verschlechterung des gesellschaftlichen Klimas. Daß die meisten neuen Steuern und der Abbau sozialer Leistungen mit Europa begründet werden, als „Eintrittsbillett“ in den Kreis der „Großen“ verkauft wird, scheint zum größten Rohrkrepierer der Nachkriegsgeschichte zu werden: „Es hieß doch immer, daß uns Europa das Paradies bringt, jetzt sterben wir vor Hunger“, riefen Frauen aus Kalabrien deckelklappernd.
Wie 1977 scheint die Regierung jedoch auch diesmal zunächst einmal die harte Linie zu fahren. Regierungschef Amato, weit entfernt von der Erkenntnis, daß der Protest durch alle Reihen geht, setzte am Mittwoch vor der Auslandspresse noch eins drauf und sagte, daß er sofort seinen Hut nehmen werde, wenn das Sanierungs-Paket nicht verabschiedet werde — „und das wäre dann der Selbstmord für die Parlamentsparteien“, denn nach sich kann sich der Sozialist nur noch die Sintflut vorstellen.
Die Gesetze werden also wohl, mit geringen Modifikationen, verabschiedet werden. Wenig Chancen dagegen hat eine Initiative der Grünen und der „Rete“ des antimafiosen Ex-Bürgermeisters von Palermo, Leoluca Orlando. Sie reichten ein Gesetz ein, das die Rückzahlung der Schmiergelder für öffentliche Aufträge und der veruntreuten staatlichen Fonds vorsieht, die Parteien und Politiker nach Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden in den letzten Jahren in Höhe von umgerechnet mehreren Milliarden DM kassiert haben. Käme es dazu, das haben inzwischen Experten aufgrund der über zweihundert Anklagen gegen Parlamentsabgeordnete und ehemalige Minister, hohe Wirtschaftsmanager und Unternehmer allein in den norditalienischen Kernregionen Lombardei und Veneto ausgerechnet, dann müßten die Oberitaliener drei volle Jahre keine Einkommenssteuer mehr bezahlen. Doch der größte Teil der veruntreuten Staatsgelder liegt, wie die Staatsanwälte herausgefunden haben, auf sicheren Nummernkonten in der Schweiz, in Luxemburg und anderen Steuerparadiesen. Daß derlei Erkenntnisse die Arbeiter am Ende eher zur faulen Tomate greifen läßt denn zum Beifallklatschen für die Austerity-Politik der Regierung und der mit ihr verbandelten Gewerkschafter ist verständlich. „Da“, sagt Makler Voltan, „braucht man bestimmt keine ,autonomen' Aufhetzer dazu.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen