: Lieber den ungeschnittenen Originalzombie
■ „Lust am Grauen“, eine Fachtagung der Evangelischen Akademie in Arnoldshain
Als zu Beginn der 80er Jahre hierzulande der Videorecorder so rasch boomte wie in keinem anderen Land, geschah eine Katastrophe; die audiovisuelle Pest brach aus: „Lehrer zeigte Horrorvideos — Gehalt gekürzt“, überschrieb Bild. Die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) in Wiesbaden, die in den 50er Jahren Filme wie Rosselinis „Rom — Offene Stadt“ aufgrund politischer Motive vorzensiert hatte, freute sich. Denn sie war nicht länger überflüssig. Zusammen mit dem Hetzblatt der Bundesprüfstelle BPS (JMS-Report) sowie einer Zange aus FSK-Vorzensur und Nachzensur via Paragraph 131 (Gewaltverherrlichung) heizte die Mafia der Sozialpädagogen eine Pogromstimmung gegen den Horrorfilm an und verbreitete die Schreckensidee, daß in jedem Kinderzimmer ein „Zombie am Glockenseil“ hing.
Seit ziemlich genau zehn Jahren wird hierzulande zu diesem Thema publiziert, finden Fernsehdiskussionen und Tagungen statt. Das Besondere an diesen Veranstaltungen ist, daß jedesmal die Idee verbreitet wird, daß man sich zum erstenmal zusammenfinden würde, um sich mit dieser Gefahr auseinanderzusetzen. Ein Medien- Geschichtsbewußtsein wird niemals vermittelt; es dominiert das Begehren nach Betroffenheit. Dabei wäre die bloße Rekapitulation der bislang betriebenen Medientheorie zu diesem Thema für sich genommen schon eine Blütenlese.
Vergangenes Wochenende lud die Evangelische Akademie im hessischen Arnoldshain zu einer Tagung der anderen Art. Lediglich der Titel „Lust am Grauen“ erinnerte an die landläufigen schwarzen Messen für schwarze Pädagogen. Schon Auswahl und Reihenfolge der Referenten signalisierte eine sublime Strategie. Vorträge von Helmut Hartwig (Hochschule der Künste, Berlin) und Waldemar Vogelgesang (FB Soziologie, Uni Trier) rahmten die Tagung programmatisch ein. Zwischendrin demonstrierte Helmut F. Lukesch (Uni Regensburg) die konservative Wirkungsdoktrin von der entsittlichenden Verrohung.
Hartwig bemühte sich zunächst, eindeutige Grenzlinien zwischen realer Gewalt und in Medien dargestellter Gewalt zu ziehen. Rechtsradikale etwa in Rostock beziehen ihren historisch rekonstruierbaren Fremdenhaß nicht aus Horrorfilmen. Die wachsende Gewaltbereitschaft gegen Asylsuchende wird durch die Handvoll Hardcorestreifen — die ohnehin verboten, zensiert und somit schwer zu haben sind — nicht gefördert. Der ganze Unterhaltungsschrott von Gottschalk bis Schwarzwaldklinik leiste einem entpolitisierendem Irrationalismus eher Vorschub. Um dies festzustellen, plädierte Hartwig für jenen Weg, den er auch in seinem Buch „Die Grausamkeit der Bilder“ einschlug: Über eine anfängliche Schockierung hinauszugehen und zur inneren Grammatik des inkriminierten Horror-Genres vorzustoßen.
Eine solche Methode, die auch die eigene Betroffenheit mitreflektieren möchte, ist natürlich mit denkerischen Problemen gepflastert, die einem ideologischen Alleinunterhalter wie Professor Lukesch die Widerrede leicht macht. Wie Thomas Gottschalk hatte der Psychologe sein Publikum im Griff. Anhand eines kurzweilig kommentierten Diavortrages suggerierte er, daß vom Altertum bis heute die Motive zur Gewaltausübung stets rational waren (Rache, Abschreckung, Bestrafung). Aus diesem Weltbild sind alle Rätsel menschlichen Handelns exkommuniziert und in Statistiken domestiziert. Anhand von unumstößlichem Zahlenmaterial demonstrierte er den angereisten Pädagogen, daß Konsum von gewaltdarstellenden Medien eindeutig zur Förderung der Gewaltbereitschaft in Natura führt.
Die schiere Absurdität der diesen Ergebnissen zugrundeliegenden quantitativen Sozialforschung entlarvte in umfassender Weise der Soziologe Waldemar Vogelgesang. In einer Kurzfassung seines Buchs „Jugendliche Videocliquen“ stellte er Ergebnisse der qualitativen Forschung dar, bei der Jugendliche endlich nicht mehr nur anonyme Manövriermasse für „Horror“-Tabellen sind. Nachdem er akribisch die medienpädagogischen Kassandrarufe à la Niel Postman („Kulturaids“) demontiert hatte, machte Vogelgesang fakten- und kenntnisreich klar, daß unter anderem der Konsum von Hardcorefilmen eine jugendspezifische „Lesart“ zwecks „Inszenierung von Andersartigkeit“ sowie „kompetente Pendler zwischen Fiktion und Realität“ herausbildet: „Das Erschrecken einer aufgeregten Öffentlichkeit ist Teil jugendlicher Ausdrucksform.“ Eine beruhigende Tendenz in einer Zeit, in der moralische Tugendwächter mit ihren Kindern gemeinsam zu Michael Jackson gehen. Dann doch lieber den Originalzombie, aber bitte ungeschnitten. Manfred Riepe
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