: Italien haut den „Presidente della Regione“
■ In den Abruzzen sitzt fast die gesamte Regionalregierung im Knast/ Der Vorwurf: Korruption und Vetternwirtschaft/ Bürger verlangten die „Enthauptung“
„Eine solche Besucherwelle hätten wir uns früher gewünscht, um unseren Fremdenverkehr zu mehren“, frotzelt Angelo La Barbera. Der Mann vom Arbeiterverband CGIL heißt die Besucher trotzdem in seiner Abruzzenstadt L'Aquila willkommen. Sie könnten „hier im tiefsten Hinterland“ noch einiges lernen, sagt er stolz. Vor wenigen Tagen waren in der „Region Abruzzen“ Hunderte von Polizisten, Carabinieri und Mitgliedern der Finanzwache ausgeschwärmt und hatten eine in Italien beispiellose Verhaftungsaktion gestartet. Nicht Mafiosi oder internationale Waffenhändler hatten sie im Visier — vielmehr wanderte nahezu die gesamte Regionalregierung in den Knast. Eine Einheit, die ungefähr einer deutschen Landesregierung entspricht.
Die Anklagen sind erdrückend: An die 400 Milliarden Lire, mehr als eine halbe Milliarde DM, haben die Regionalminister einer Koalition aus Christdemokraten (DC), Sozialisten und Liberalen unter ihrem DC-Regionalpräsidenten Rocco Salimi verschluckt. Das Geld war für die Neustrukturierung der wirtschaftlich weit zurückgebliebenen Bergregion vorgesehen. Die KoalitionspolitikerInnen haben es statt dessen unter sich und ihrer Klientel verteilt. Besonders peinlich: Unter den 400 Milliarden Lire waren auch 30 Milliarden (ca. 36 Millionen DM) von der EG. Nach diesem neuen Subventionsskandal hat die EG alle weiteren Zahlungen an die Region suspendiert.
Die Menschen in L'Aquila haben Erfahrung im Umkrempeln alter Verhältnisse: Schon im 13.Jahrhundert führte die Region unter Friedrich II. eine sensationelle Reform durch. 99 Gemeinden schlossen sich damals zu einem Verbund zusammen und gründeten das erste moderne Verwaltungssystem Europas.
Die Verhaftungsaktion kam zustande, weil sich die Bürger selbst auf die Hinterbeine gestellt hatten. Etwas, das in Italien bisher nur selten geschah. So rief ein kleiner Hotelier die Carabinieri zu Hilfe. Die Administratoren hatten, trotz korrekter Bewerbung, seine Miniherberge (36 Betten) nicht subventionieren wollen, weil er aus der DC ausgetreten war. Kleine Geschäftsleute, Bauunternehmer, Architekten taten desgleichen. Und erstmals zogen Polizei und Staatsanwälte sofort mit. Innerhalb weniger Tage griffen sie zu. Kein Fackeln wie früher, kein Spurenverwischen, kein Kotau vor den Mächtigen.
„Der Staat kommt wieder ins Gleichgewicht“, frohlockte auf einer Protestversammlung Corrado Bastucci vom Bauernverband. Die Puppenspielerin Annarita Di Lena aus Chieti nahe Pescara läßt ihren „Pulcinella“-Clown mittlerweile nicht mehr den bösen Baron, sondern den „Presidente della Regione“ verhauen — was mittlerweile sogar die Kinder als Gaudi empfinden.
Italien beginnt sich offenbar zu wandeln — von innen heraus, und geradezu beispielhaft. Seit im reichen Mailand respektlose Staatsanwälte reihenweise Parteikassierer und korrumpierende Unternehmer festsetzten und für gut zwei Dutzend Abgeordnete und Ex-Minister die Aufhebung der Immunität beantragen (und meist auch erhalten), ist das Establishment in Verwirrung geraten. Nachdem bekannt wurde, daß auch Leiter von Fiat-eigenen Unternehmen in den Skandal verstrickt waren, gab Fiat-Generalmanager Cesare Romiti eine bemerkenswerte Erklärung ab: „Ich schäme mich zutiefst.“
In den Abruzzen kritisierte Angelo la Barbera trotzdem, daß „die Mailänder irgendwie auf halbem Weg stehengeblieben“ seien. „Die haben gegenüber den ganz Großen noch die Samthandschuhe an, wir jagen sie zum Teufel“, sagte der Vertreter des Arbeiterverbandes CGIL. Tatsächlich sind es derzeit eher kleine Amtsrichter und ländliche Staatsanwälte, die die Parteien an ihrem empfindlichsten Punkt treffen — an der Basis. So rückten sie im piemontesischen Vercelli Stadtdezernenten und Unternehmern wegen unkorrekter Vergabe eines Auftrags zur Müllverbrennung zu Leibe. In Terracina bei Rom und Neapel stehen acht Dezernenten wegen gesetzeswidriger Vergabe von Baugenehmigungen unter Anklage. In Reggio di Calabria, im tiefsten Süden, wanderten reihenweise Stadtväter hinter schwedische Gardinen, weil sie von Eisenbahntrassen bis zu Krankenhausleitungen alles nur nach der Höhe der Parteispenden vergeben hatten. Mehrere Dutzend Stadt- und Gemeinderäte wurden bereits aufgelöst, Kommissare eingesetzt und Neuwahlen ausgeschrieben. Dabei hilft ein vor einigen Jahren verabschiedetes Antikorruptionsgesetz.
Während die korrupten Parteien die Auflösung von Stadt- und Gemeinderäten bis vor kurzem mit Achselzucken quittierten, ihre alten Kandidaten erneut präsentierten und sich ihrer Wiederwahl sicher waren, fürchten sie mittlerweile den Urnengang. Schuld daran sind neue Gruppen, die in den letzten Jahren und Monaten gerade durch die Denunzierung des verfaulten Politestablishments Furore gemacht und bei Wahlen durchweg hohe Prozentzahlen einheimsen.
In der lombardischen Provinz Mantua, wo vorige Woche gewählt wurde, bekam die massiv gegen Rom und mit Fremdenfeindlichkeit arbeitende „Lega nord“ fast 34 Prozent aller Stimmen. Die römischen Regierungsparteien (Christ- und Sozialdemokraten, Sozialisten und Liberale) erhielten zusammen gerade noch 23 Prozent. Zählt man die ebenfalls gegen Korruption und Mißwirtschaft kämpfenden Formationen der Grünen und der vom antimafiosen Ex-Bürgermeister von Palermo geführten „Rete“ sowie einige Dissidentenlisten dazu, dann haben sich die Mantuaner zu mehr als 55 Prozent als Protestwähler gezeigt. Daß sich gleichzeitig auch die bisher in allen Wahlen stark abfallenden Ex- Kommunisten der Demokratischen Partei der Linken (PDS) einigermaßen gehalten hat (18 Prozent) und die Minderheitsfraktion der EX-KP, Rifondazione comunista, mit fast sieben Prozent sogar etwas zulegte, zeigt, daß die Wähler mittlerweile allen — außer der Regierung — das Regieren zutrauen.
So mußten denn noch am Tag der „Enthauptung“ der Abruzzen- Regierung nahezu alle Provinz- Chefs der gebeutelten Parteien nach L'Aquila eilen, um den Schaden zu begrenzen: „Auf keinen Fall Neuwahlen“, brummte DC- Chef Remo Gaspari. Seine sozialistischen und liberalen Koalitionspartner hielten bereits nach einer neuen Allianz Ausschau — notfalls mit den bisher vom Subventionstopf ferngehaltenen Ex-Kommunisten und den Bürgerlisten. Einfach wird das nicht werden. „Klare Anweisungen, wo es langgehen soll“, vermißt der christdemokratische Regionalminister Franco La Civita, der wegen seiner Abwesenheit bei der kompromittierenden Sitzung in L'Aquila nicht unter die Räder kam.
DC-Chef Forlani, 67, der seinen Rücktritt schon mehrere Male verkündet und ebenso oft zurückgezogen hat, geht nun endgültig in Rente. Er macht einem der wenigen noch präsentablen DC-Männer Platz, Mino Martinazzoli, 62, ein Engholm-Typ mit großer Betulichkeit, den die Führer der parteiinternen Strömungen bisher von den Schalthebeln ihres „Palazzo“ fernzuhalten versucht haben. In der bisher uneingeschränkt von Bettino Craxi beherrschten Sozialistischen Partei (PSI) hat sein engster Vertrauter Justizminister Claudio Martelli eine Palastrevolution angezettelt, die wohl spätestens auf einem Sonderkongreß in den nächsten Wochen Craxi mit der gesamten derezeitigen PSI- Führung wegspülen wird.
In den Abruzzen bezweifelt Angelo La Barbera, ob ein gründliches politisches Reinemachen, wie in L'Auqila geschehen, auch in Deutschland möglich wäre. Er fragt: „Würdet Ihr deutschen Ministerpräsidenten, wenn so was rauskäme, auch per Volksaufstand, ohne Blutvergießen und per Staatsanwalt das Handwerk legen?“ Werner Raith, L'Aquila
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