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Die Waage fliegt raus

■ Die Volkshochschule reformiert ihre Abnehm-Kurse: Frauen sollen lernen, ihren Körper anzunehmen, statt auf Kilos zu schielen. Denn Diäten machen dick und oft auch krank

: Frauen sollen lernen, ihren

Körper anzunehmen, statt auf Kilos zu schielen.

Denn Diäten machen dick und oft auch krank

Manchmal geschehen gesellschaftliche Fortschritte im Kleinen und ganz Kleinen. Frau Ingrid Modrow, so war jüngst in einer Mitteilung der Volkshochschule Harburg-Süd zu lesen, bietet einen Abnehmkursus mit neuem Konzept an. Statt „Abnehmen mit Vernunft“ soll es künftig heißen „Sich annehmen — abnehmen“. Ingrid Modrow hat Pflaumenkuchen gebacken, mit Dinkelmehl und geriebenen Haselnüssen im Teig. Kirschrote Servietten, zu Fächern gefaltet, zieren die Keramiktassen vor dem Gebrauch. Es gibt Pfefferminztee. Die studierte Hauswirtschaftslehrerin erklärt die wichtigsten Neuerungen: Früher gab es in den Abnehmkursen eine Waage, mußten sich die Kursteilnehmerinnen zu Beginn jeder Sitzung in eine Liste eintragen. Das alles fällt jetzt weg. Auch wurde bisher verlangt, daß die VolkshochschülerInnen penibel zu Papier bringen, was sie essen, es vorher wiegen und die Kalorien ausrechnen. Auch das ist nicht mehr.

Als Ingrid Modrow den acht Teilnehmerinnen beim ersten Treffen erklärte, daß Abnehmen nicht das oberste Ziel des Kurses ist, haben sie es geschluckt. Frauen — es sind überwiegend Frauen —, die sich in Abnehmkurse der Volkshochschule begeben, haben oft schon jahrelange Diät-Karrieren hinter sich. Mal Atkins, mal Mayo, mal Ananas, es gibt hunderte von Methoden, mit denen die weibliche Hälfte der Menschheit auf Linie gebracht werden soll. Das Erschreckende: Diäten sind nicht nur ungesund, weil sie dem Körper wichtige Nährstoffe wie Eiweiß oder Kohlenhydrate entziehen. Sie machen obendrein auch noch dick.

„Das ist der sogenannte Jo-Jo- Effekt“, erklärt die Diplompädagogin Heike Gawor, die zusammen mit fünf anderen VHS-Dozentinnen das neue Konzept ausgebrütet hat. Erhält der Körper weniger Kalorien, stellt er sich automatisch auf einen geringeren Verbrauch ein. Kommt dann nach Ende der Diät wieder die normale Kost, setzen die Pfunde um so schneller wieder an. Ein Teufelskreis.

Das Konzept „Abnehmen — aber mit Vernunft“, mit dem auch Heike Gawor zwölf Jahre lang in Bergedorf unterrichtet hat, geht auf dieses Phänomen bereits ein. Statt einer kurzfristigen Diät als Hungerphase sollen die Dicken ihre Ernährung für immer umstellen. Doch der Erfolg läßt auch hier zu wünschen übrig. Etwa ein Drittel der Frauen, so schätzt VHS-Dozentin Ute Lauth aus Farmsen, hatte bei ihren Kursen das Klassenziel erreicht. Und was ist mit dem Rest? Müssen alle schlank sein? Können nicht auch einige dick bleiben?

Eigentlich war's Zufall, daß die Volkshochschule bundesweit ihr Konzept für die Lebenshilfe in dieser für etliche Menschen doch sehr wesentlichen Frage geändert hat. Es gab Streß mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA), Gerüchte, die Behörde wolle das Patent für die gemeinsam entwickelte Methode an ein privates Institut verkaufen. Die Pädagogische Arbeitsstelle der VHS- Zentrale in Frankfurt nahm die Situation zum Anlaß, das Konzept zu reformieren. „Das alte hatte den verhaltenstherapeutischen Ansatz: wenn du zuviel Fett frißt, dann laß das Fett weg“, erklärt der für Gesundheit zuständige VHS-Mitarbeiter Peter Wenzel. Der ganze psychosoziale Hintergrund sei dabei nicht berücksichtigt worden. Die sechs VHS-Dozentinnen hatten ihre Kurse schon selber verändert, Heike Gawor zum Beispiel das Wiegen bereits früher abgeschafft.

Das Zehn-Punkte-Programm, das die Fach-Frauen ausgetüftelt haben und jetzt umsetzen, kommt den Ideen der amerikanischen Feministin Susie Orbach recht nahe (siehe Artikel unten). Wichtig ist, daß die Kursteilnehmerinnen lernen, sich wieder auf ihre eigenen Körpersignale, ihr eigenes Hungergefühl zu verlassen. Daß sie ihren Körper als den ihren annehmen, ohne auf die Waage als oberste

1Richterin zu schielen.

Diäten machen nicht nur dick, sie machen auch seelisch krank. „Seit es Diäten gibt, gibt es Eßsucht“, sagt Gisela Hanf-Stein von der Eßstörungsstelle bei „Kiss“, der Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen. Die 52jährige Diplompsychologin betreut seit anderthalb Jahren 20 Gruppen von Frauen, die an Bulimie (Eß-Brech-Sucht), Anorexie (Magersucht) und Eßsucht leiden.

Der Druck, schön zu sein, ist größer geworden

„Sicher ist nicht jede Frau, die Diäten macht, süchtig“, sagt die Expertin. Allerdings seien Freßanfälle nach einer Hungerphase ein ganz natürlicher Vorgang. Süchtiges Verhalten beginnt dort, wo es zwanghaft wird. „Zwanghaftes Essen, zwanghaftes Hungern, zwanghaftes Kotzen, zwanghaftes Denken“, das sei es, was die Betroffenen an meisten quält: „Daß sich das ganze Leben nur ums Essen dreht.“

Eine, die dafür sorgt, daß das so bleibt, ist zum Beispiel Brigitte. Die Frauenzeitschrift rühmt sich, eine ausgewogene 1000-Kalorien-pro- Tag-Diät entwickelt zu haben, die auch von Medizinern empfohlen werde. Doch auf jede Abnehm- Story folgen unweigerlich die Keksrezepte für die Familie und die Tips für das Weihnachtsmenü, dann im Januar stets die nächste Frühjahrsdiät. Das wird auch 1993 so sein.

1Auch sind die Versuche, Dicke als Wesen anzuerkennen, nur halbherzig. Die bestellbare Mode für Mollige bis Größe 46 wird stets von gertenschlanken Models vorgeführt. „Die Frauen von heute sind zufriedener mit ihren Gewicht“, sagt Frau Meyer-Bungert vom Brigitte-Leserinnendienst. „Der Druck auf Frauen, schön zu sein, ist größer geworden“, konstatiert dagegen „Kiss“-Beraterin Hanf-Stein. Als „Kiss“ zu Beginn der 80er Jahre mit der Selbsthilfegruppenarbeit anfing, haben diese zu zwei Dritteln aus dicken Frauen und zu einem Drittel aus Bulimie-Kranken bestanden. Heute sei das Verhältnis umgekehrt. Die unsichtbare Form der Eßstörung (Kotzen) wird der sichtbaren Form (Dicksein) vorgezogen. Für Gisela Hanf-Stein kein Wunder: „Dicke Frauen werden in unserer Gesellschaft am allermeisten diskriminiert.“

Das 13 Jahre alte Anti-Diät-Buch von Susie Orbach sei alles andere als überholt. Nur schwinge zwischen den Zeilen eine Euphorie aus den Anfangszeiten der Frauenbewegung mit, die heute nicht mehr da sei. Leider. Selbst im sogenannten links-alternativen Milleu gibt es kaum eine Frau, die mit dem Figur- Thema nicht „irgendwas laufen hat“, dafür Kollegen, die glauben, sie sagen einer Frau etwas Nettes, wenn sie lobend erwähnen, daß sie wohl abgenommen habe. Weniger ist bei Frauen eben immer mehr. Da tröstet es auch überhaupt

1nicht, daß neuerdings auch junge Männer unter dem Schlankheitswahn zu leiden scheinen. Unter der Regie von „Kiss“ nehmen gerade zwei Selbsthilfegruppen für eßsüchtige Männer die Arbeit auf.

Das öffentliche Bewußtsein zu diesem Problem scheint sich überhaupt nicht gewandelt zu haben — gerade diese Woche wirbt wieder eine Tiefkühlkost-Firma an Hamburgs Bushaltestellen mit einer schlanken Frau, die sagt: „Mehr paßt nicht in meinen Mini“ —, die Einstellung all jener, die mit Betroffenen zu tun haben, ändert sich im Schneckentempo. Erst diesen Sommer nahm die Hamburger Ärztezeitung das Phänomen der Eßsucht, Eß-Brech-Sucht und Magersucht zur Kenntnis, ließ sich auch über soziokulturelle und psychosomatische Faktoren bei der Erkrankung aus. Die abschließend in dem Artikel erläuterten Therapieformen werden von den Kassen freilich nicht finanziert.

Dagegen ist die Zahl der Abnehm-Kurse, die die Krankenkassen in dieser Stadt anbieten, unüberschaubar. Allein die AOK offeriert zehnmal den Lehrgang „Gesund genießen, schlanker werden“ an. BEK und BKK versuchen es weiter mit „Abnehmen — aber mit Vernunft“. Auch an den Krankenkassen — stets an Kostensparung und somit auch an Prävention interessiert — ist die Erkenntnis nicht vorbeigegangen, daß Dicksein etwas mit den Problemem der Frau in dieser

1Gesellschaft zu tun hat. „Zu uns kommen oft Frauen zwischen 40 und 50, die alleinstehend sind und Lebensprobleme haben“, berichtet Katarina Tiedgen von der BEK. Viele Kurse münden auch hier in Selbsthilfegruppen. Tiedgen: „Das Abnehmen ist zweitrangig, wenn die Frauen sich besser fühlen, tun sie das automatisch.“ Dennoch sind Waage und Kalorienzählerei fast allen diesen Kursen gemein. Also wieder Kontrolle und den ganzen Tag nur ans Essen denken?

Kontrolle oder nicht Kontrolle, auch Gisela Hanf-Stein ist sich da nicht hunderprozentig sicher. „Eine Frau, die sich zum erstenmal Gedanken macht, würde ich vielleicht in so einen Kurs schicken. Eine Eßsüchtige aber nicht.“ Die Dozentinnen der Volkshochschule wollen sich Ende Oktober zum ersten Erfahrungsaustausch treffen. Auch Ingrid Modrow ist sich nicht sicher, ob es ganz ohne äußere Zwänge geht. „Für manche Frauen war das alte Konzept vielleicht besser.“

Der Pflaumenkuchen mit Dinkelmehl bleibt zur Hälfte liegen. Sie habe aus dem Anti-Diät-Buch gelernt, daß man immer einen Rest lassen soll, entschuldigt sich die Autorin. Ja, sagt die VHS-Dozentin, das sei wichtig. Wichtig sei aber auch „daß man den Kindern beibringt, sich nur soviel auf den Teller zu tun, wie sie auch aufessen.“ Die angebotenen Stücke Pflaumenkuchen aber waren einfach zu groß. Kaija Kutter

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