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Askese, Spektakel, Impotenz

Giacinto Scelsi, Cage, Iannis Xenakis und Bernard Cavanna auf dem Festival „Musica“ in Straßbourg  ■ Von Frank Hilberg

Blau, tiefdunkelblau glimmt das Portal der Eglise Saint Paul. Das tiefe Blau der Meeresabgründe, das ferne Blau des Zodiaks ist das Signet des Straßbourger Festivals „Musica“ — wo es aufleuchtet, finden die Konzerte mit zeitgenössischer Musik statt.

Gianto Scelsis Musik, mit der die Festspiele eröffnet wurden, hat in der Kirche ihren rechten Ort und in der Farbe Blau das richtige Sinnbild. Denn obwohl diese Musik an keine Konfession gebunden ist, eignet ihr die Inbrunst religiöser Exklamation. Insbesondere die drei Stücke für Chor und Orchester „Uaxuctum“ (1966), „Pfhat“ (1974) und „Konx-om-pax“ (1969) tragen religiöse Verweise nicht nur im Titel, sondern transportieren auch mit den Klangmitteln entsprechende Attribute. Im Stück „Pfhat“ wird der Untertitel „Ein Knall... und der Himmel öffnete sich“ wahrgemacht, indem nach einem mächtigen Schlag des Orchesters jeder Chorist zwei Minuten lang eine jener schrillenden Glocken schüttelt, wie Ministranten sie betätigen, um die höheren Weihen einzuläuten — eine betäubend schrille Wolke des Geläuts, die so leicht nicht mehr zu vergessen ist.

Daß solche um Erlösung ringende, rastlose Musik, die soviel traditionelles Erbe über Bord geworfen hat, soviel Publikum anzieht, ist eigentlich kaum begreiflich. Insgesamt ist das Programm des Festivals weder avantgardistisch noch experimentell zu nennen, es sucht nicht das Unbekannte und häuft auch nicht beflissen Uraufführungen. Dennoch gelingt es, anspruchsvolle Konzerte zu flechten, ohne das Zeitgenössische hinter Klassikern zu verstecken oder es mit Hits zu versüßen. Das Erfolgsrezept liegt vielmehr in der Mischung von Kammer- und Orchestermusik, Oper und Musikfilm. Es liegt aber auch in der geschickten Wahl der passenden Spielstätte, die den Besucher zudem quer durch das überaus schöne Städtchen führt.

Sternenferne

Ein Konzert mit den „Etudes Australes“ (1974-75) von John Cage war ein Marathontest für Musiker wie Hörer gleichermaßen, immerhin legte der Pianist Bernhard Wambach die 32 Etüden in dreieinhalb Stunden zurück. Die Stücke sind aus einem Sternenatlas gewonnen. Cage nahm Karten des südlichen, des australischen Himmels und erstellte aus den Positionen der Sterne und Konstellationen den Notentext. Das klangliche Ergebnis ist, im übertragenen Sinne, wiederum ein Universum. Denn in der Unverbundenheit der Staccato-Töne, die als einzelne Punkte vor dem schwarzen Hintergrund der Stille aufleuchten, tritt eine ähnlich kalte und klare Sternenferne hervor, wie beim Betrachten des Nachthimmels. Allein durch die schiere Dauer des Ereignisses stellt sich eine besondere Form der Aufmerksamkeit ein, eine Selbstvergessenheit in schwebender Konzentration. Und wo eben nur Punkte aneinandergereiht schienen, reihen sie sich zu Konfigurationen, scheinen plötzlich Sternbilder auf, treten die Töne in Nähe (laut) und Ferne (leise) auseinander, weitet sich der Raum zwischen den Figuren zur Dreidimensionalität. Ein Mädchen las während des Konzertes (diese Form des Divertissements war einst das Privileg des Adels) in einem Buch. Sie las „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ob sie die wohl gefunden hat?

Oper der Impotenz

Für unwiederbringlich verlorene Zeit sorgte Bernard Cavanna, der sich mit seiner Oper „La Confession Impudique“ (Uraufführung) ein Bekenntnis zur Unsittlichkeit vornahm. Der Roman von Junichiro Tanizaki, der in Frankreich weite Verbreitung fand, hat in dieser Hinsicht einiges zu bieten. Ein alternder Professor vermag seine viel zu junge und viel zu wollüstige Frau nicht mehr zu befriedigen, selbst Medikamente und Spritzen helfen dem Problem nicht ab. Doch entdeckt er schließlich eine Leidenschaft, die ihn nachhaltig stimuliert: wenn sein junges Weib komatös betrunken daniederliegt, was allabendlich der Fall ist, entkleidet und photographiert er sie in unsittlichen Posen. Wie es zu sein pflegt, die Schandtat kommt heraus. Da wahrt auch die Frau nicht länger Kontenance und gibt sich dem Verlobten ihrer Tochter hin. Der Mann beobachtet es, was ihn zugleich peinigt und erregt. Allerdings wird er über seinen Voyeursünden immer hinfälliger, so daß er alsobald stirbt — wie es sich für einen Übeltäter gehört.

In Töne gesetzt und auf die Bühne gebracht, stellt sich das Sujet aber ganz anders dar. Zwar liegt auch hier der drückende Hauch der Impotenz in der Luft. Aber er rührt von dem Unvermögen, die Unsittlichkeit zu gestalten. Aus Scheu den Konflikt zwischen Sitte und Obsession wirkungsvoll darzustellen, wird er zum faden Lyrizismus herunterstilisiert — die Oper könnte von ihrer Sprengkraft her auch vom Tode der geliebten Hauskatze handeln.

Verharmlosung durch artifizielle Verbrämung findet auf allen Ebenen statt. Die Szene kann sich zwischen realistischen Mitteln und abstruser Abstraktion nicht entscheiden: der Voyeur blinzelt durch den Sucher seiner Kamera, und was er da sieht, wird, damit es alle sehen, per Dia projiziert, wobei die Pornobilder Bestandteil jeder Gesund-durch-Haferflocken- Reklame sein könnten. Das Opfer ist natürlich ordentlich angezogen, doch wurden ihm — Oh Gipfel der Verruchtheit — zwei Blusenknöpfe heimtückisch geöffnet: Tabus brechen wollen, aber ja nichts riskieren. Solche Backfischobszönität paßt natürlich vortrefflich zu den abgeschmackten Gesten großer Oper. Wenn etwa die Ehebrecherin und ihr Galan sich die heftigen Leidenschaften, von denen sie geplagt sind, verdeutlichen, so singen sie mit weit geöffneten Mündern und beschwörendem Armgefuchtel aneinander vorbei ins Publikum. Brrr.

Die wohlfeilen Mittel der Klischees bewähren sich auch in der Musik: Die Sehnsucht ist ein hauchiger Klang, das Unheil ein jammerndes Glissando, die Leidenschaft sind heftige Streicherfiguren und bei den Schandtaten schreit sich das Orchester die Seele aus dem Leib. Die Symbolisierungen werden in bewährter Arbeitsteiligkeit geleistet, wobei das Orchester die Gefühlsarbeit übernimmt, die großen Worte Taten ersetzen und Typen statt Charaktere über den Plan schreiten, die als humanoide Wandelrequisiten das Bühnenbild wirkungsvoll bereichern.

Faust auf dem Marktplatz

Ganz anders ging es da bei Iannis Xenakis „Faust“ zu. Der ehrwürdige Stoff kehrt dahin zurück, wo er herkam: in die Sphäre des Volkstümlichen. Konsequenterweise fand das Drame musical in einem Zirkuszelt auf den Marktplatz einer der modernen Trabantenstädte statt. Und das Trio fatal der Weltliteratur bekam neue Rollen zugeteilt. Faustus ist nun ein Schlagzeuger, Mephisto hat als Bassist die einzige Gesangspartie, und Grete schwingt als Akrobatin am Hochseil durch die Lüfte. Dazu schreitet, tanzt und singt ein gemischter Chor durch die Arena. Mit den bekannten Faustbearbeitungen hat das Spektakel wenig gemein und ist wohl auch nicht als feinsinnige Exegese gemeint. Doch gegenüber so vielen Versuchen mit artifiziellen Ambitionen hat es den Vorteil, packend zu sein. Wenn Faust donnernde Salven aus seinem Schlagzeug drischt, weit mehr physikalischer Druck als Klang, dann wirkt das unmittelbar, ebenso wenn der eindrucksvolle Bass von Nicolas Isherwood durchs Areal gellt, mal im gutturalen Falsett, mal mit klangvoller Tiefe. Dazu kommt ein Nervenkitzel der Akrobatik, wenn Grete unter der Kuppel freihändig schaukelt, hin und her und gegen allen Menschenverstand doch nicht den Halt verliert und nicht auf den Betonboden schlägt.

Das Stück als Uraufführung auszugeben ist Blendung und entspringt wohl dem ökonomischen Denken des Komponisten, denn eine Kompilation von sieben älteren Stücken macht den allergrößten Teil des Faust aus. Xenakis, scheint es, macht es sich zunehmend einfacher, auch wird seine Musik von Jahr zu Jahr schlichter. Aber hier funktioniert sie ausgezeichnet.

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