: Einweisung in die Schuldenfalle
Der britische Staat hilft den Armen mit Krediten — um das „Verantwortungsbewußtsein“ zu stärken. Die Raten werden dann praktischerweise gleich von der Sozialhilfe abgezogen. ■ Aus London Ralf Sotscheck
Wenn das Haushaltsdefizit zu groß wird, muß gespart werden. Und wo kann man besser sparen als bei den Arbeitslosen? Während ihre Zahl in Großbritannien zügig auf drei Millionen zugeht, will das Finanzministerium den Zeitraum, in dem sie Arbeitslosenhilfe kassieren, von zwölf auf sechs Monate halbieren. Von den 600.000 Menschen, die davon betroffen wären, erhält jedoch sowieso nur die Hälfte Arbeitslosenhilfe. Die Berechtigung hängt nämlich davon ab, ob man in den vorangegangenen zwei Jahren Beiträge zur Sozialversicherung gezahlt hat. Verheiratete Frauen, Teilzeitbeschäftigte und alle, die während dieser zwei Jahre nicht durchgängig gearbeitet haben, fallen durchs Netz.
Dieses ist ohnehin dürftig: Die Arbeitslosenhilfe beträgt bei Alleinstehenden 43,10 Pfund pro Woche (umgerechnet 108 Mark), bei verheirateten Ehepaaren 69,70 Pfund (knapp 175 Mark) — und darauf müssen sie auch noch Steuern zahlen. Kein Wunder, daß die große Mehrheit der Arbeitslosen bereits heute auf Sozialhilfe angewiesen ist. Bis vor sechs Jahren konnten Sozialhilfeempfänger noch Gelder für größere Anschaffungen — etwa ein Bett, einen Teppich oder einen Kochherd — beantragen, weil die Stütze gerade mal zum Überleben reichte. Doch nach Inkrafttreten des neuen Sozialhilfegesetzes der Thatcher-Regierung 1986 wurde der Topf, aus dem diese Zuschüsse kamen, von 334 Millionen Pfund auf 60 Millionen zusammengestrichen. Dazu kamen 200 Millionen als Kredite. Praktischerweise werden die Raten dafür dann gleich von der Sozialhilfe abgezogen. Im März dieses Jahres wurde dieser „Sozialfonds“ wieder auf 302 Millionen Pfund erhöht — zwei Drittel davon, 211 Millionen, jedoch als Kredite. Die Regierung versuchte, das als 32-prozentige Steigerung zu verkaufen. Die Kredite, die die Torys als Almosen in ihre Rechnung miteinbezogen, verschlechtern vielmehr die Situation für die Armen, denn zu den Rückzahlungen aus dem mageren Sozialhilfesatz kommen nun noch die Zinsen.
Freilich haben die Torys nicht erst 1986 mit der Demontage des sozialen Netzes begonnen. Kaum waren sie 1979 an die Macht gekommen, da legten sie die Latte für Kleidungszuschüsse so hoch, daß die Zahlungen um 84 Prozent zurückgingen. Wer sich dennoch ein Paar neue Schuhe leisten wollte, mußte eben an den Heizkosten sparen. Wer es zu Hause aber warm haben wollte, mußte am Essen sparen. Da war es nur konsequent, daß die Torys auch gleich die Zuschüsse für Tisch und Stühle strichen.
Die Thatcher-Regierung begründete dies mit dem absurden Argument, dadurch würde das Verantwortungsbewußtsein der Armen gestärkt und bei ihnen eine bessere Haushaltsplanung gefördert. Die Einführung des Sozialfonds sei ein weiterer Schritt in diese Richtung gewesen, will man der Regierung glauben. Ein Staatssekretär im Finanzministerium sagte 1986: „Das Kreditsystem schafft eine größere Gleichheit zwischen Sozialhilfeempfängern und Menschen mit niedrigem Einkommen, die sich ebenfalls Geld für größere Anschaffungen oder unvorhergesehene Ausgaben leihen müssen.“ Im selben Jahr behauptete er, daß just der Sozialfonds die Schuldenlast von den Armen nehmen werde. Der Staatssekretär, auf dessen Mist diese eigenwillige Arithmetik gewachsen ist, heißt John Major, inzwischen ist er zum Premierminister befördert worden. Daß die Konservativen den Thatcherismus auch ohne seine Namensgeberin fortführen, unterstrich am Mittwoch auf dem Tory-Parteitag in Brighton der Minister für Soziales, Peter Lilley, als er neuerliche Kürzungen der „öffentlichen Ausgaben, einschließlich der Sozialhilfe“ ankündigte. Doch auch von der Opposition oder von der EG haben Großbritanniens Sozialhilfeempfänger nicht viel zu erwarten: Die Labour- Party will erst mal in einer auf zwei Jahre angelegten Kommissionsarbeit klären, was aus dem „Wohlfahrtsstaat“ geworden ist. Und hinsichtlich der EG hat Sozialminister Lilley erst im vergangenen Monat bekräftigt, daß eine Harmonisierung des sozialen Systems innerhalb der Europäischen Gemeinschaft überhaupt nicht zur Debatte stehe. „Wer glaubt, wir könnten oder sollten uns an das Land mit dem dichtesten sozialen Netz in der EG anpassen, lebt in einer Traumwelt“, sagte Lilley auf einer Konferenz in York. „Das wäre der sichere Weg in den Bankrott.“ Auf dieser Konferenz wurde übrigens just das 50. Jubiläum des Beveridge-Berichts gefeiert, der die Grundlage für den britischen „Wohlfahrtsstaat“ bildete. Ginge es nach Lilley, hätten Frauen heute noch weniger zu feiern: Er wies darauf hin, daß ein Urteil aus dem Jahr 1990, das Frauen aufgrund von EG-Recht dieselben Pensionsansprüche wie Männern zusprach, „ernsthafte Probleme für Großbritannien“ geschaffen habe. „Da sich unser Sozial- und Rechtssystem von den meisten anderen europäischen Ländern unterscheidet, sind wir von einer Harmonisierung am stärksten bedroht“, sagte Lilley. Mit anderen Worten: Weil Großbritannien seine Armen und Arbeitslosen am schändlichsten behandelt, würde eine menschenwürdige Bezahlung London am teuersten zu stehen kommen.
Auf anderem Gebiet tritt Lilley übrigens durchaus für eine engere europäische Kooperation ein: Er ist bei den anderen elf EG-Ländern vorstellig geworden, um gemeinsam eine Strategie zur Verhinderung von Sozialhilfebetrug zu entwickeln. „Die Regierungen müssen kooperieren“, sagte Lilley. Und fügt hinzu: „Aber Kooperation heißt nicht Harmonisierung.“
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