: „Hier entstand die Menschheit“
Die Konflikte in Nagorny Karabach sind zu einem unerklärten Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan eskaliert/ In Jerewan organisieren Freischärler die Unterstützung der Armenier ■ Aus Jerewan Peter Damman
Morgens schwebt der schneebedeckte Gipfel des Ararat wie eine Wolke im Süden der Stadt. Nur etwa 50 Kilometer Luftlinie trennen die Jerewaner vom ihrem heiligen Berg, der sich seit 1920 auf türkischem Staatsgebiet befindet. In der trockenen Hitze des Spätsommers denken die Einwohner der Hauptstadt mit Schrecken an den kommenden Winter: Aserbaidschan blockiert die Gaslieferungen aus Rußland, es wird wieder keine Heizung geben — bei Außentemperaturen von 30 Grad unter dem Gefrierpunkt.
Mikail wurde vor sechs Monaten von einem russischen Panzer verwundet. Sein rechtes Bein mußte amputiert werden, sein linkes Bein ist noch nicht gerettet. Er wartet auf seine vierte Operation: „Ich werde weiter kämpfen“, sagt der 25jährige Medizinstudent mit glühenden Augen. Seine Mutter weint, seit sechs Monaten pflegt sie ihr Kind im schmalen Dreibettzimmer des Krankenhauses.
Albert, sein Kommandant bei den Fedajin, verfolgt die Szene von einem Stuhl, die Arme auf seine Krücken gestützt. Er wurde von demselben Panzer verletzt und wartet seit Wochen auf einen zweiten Operationstermin. Bleich wirkt er und müde, als er vor dem Krankenhaus auf den Beifahrersitz des Lada-Geländewagens steigt. „Die Aserbaidschaner sind jetzt in der Offensive“, erklärt der Kommandant, der eigentlich Hochschullehrer im Institut für Sportpädagogik war. Seit vier Jahren verteidigt er die Grenzen Armeniens und kämpft in Nagorny Karabach, das die Armenier Arzach nennen. Von seiner 70 Mann starken Gruppe mit dem Namen „Nikol Duman“ sind schon neun gefallen und fünfzehn verwundet.
Das Kriegsziel der Aserbaidschaner und Türken sei klar: „Sie wollen nicht nur alle Armenier aus Karabach vertreiben, sondern auch ein Drittel der armenischen Republik im Süden abtrennen. Sie wollen einen Landkorridor zwischen der Türkei und Aserbaidschan erobern.“ Die Aseris hätten jetzt moderne Waffen von der russischen Armee und aus der Türkei bekommen. Im August haben die Aseris begonnen, die Zivilbevölkerung aus Flugzeugen zu vernichten. Jeden Tag werden die Hauptstadt Karabachs, die Grenzregionen, aber selbst Städte wie Goris, 30 Kilometer im Landesinneren Armeniens, durch ukrainische Söldner bombardiert.
Jetzt gibt es einen unerklärten Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan. Nur rund 5 Prozent der Armenier beteiligten sich am Kampf. Wenn das ganze Land gegen die Aseris kämpfen würde, könnten sie schnell gewinnen, sagt er. „Sie können viele von uns töten, aber sie können uns nicht besiegen. Auf dem Berg Ararat in Armenien landete die Arche Noahs. Hier entstand die Menschheit, hier kann nicht ihr Ende sein.“
Während der Fahrt zum Zentrum der Freischärler sind lange Schlangen wartender Menschen vor den Brotgeschäften zu sehen; das Tor einer Brotfabrik wird von Kindern, alten Frauen und Männern belagert. Seit den Kämpfen um die Provinz Abchasien in Georgien ist Armenien von allen Landwegen abgeschnitten, die Getreidelieferungen kommen nicht mehr durch. Die eigene Weizenernte wird sofort zu Mehl verarbeitet, aber es reicht nicht aus, um genug Brot für die Einwohner Jerewans zu backen.
Auf der Gegenspur fahren Flüchtlinge, mit ihren Bündeln und Koffern auf den Ladeflächen von Lastwagen hockend, in die Stadt. Sie stieren hoffnungslos vor sich hin. Niemand weiß, wie viele Menschen jetzt in Jerewan wohnen.
Mitten auf einer Kreuzung steht ein verlassener Trolleybus, den Vartan umkurvt. Mit den diversen Auswirkungen der täglichen Stromabschaltungen hätten sie gelernt zu leben. Schwieriger sei es mit dem Wasser. Die Wasserversorgung bricht täglich, manchmal für mehrere Tage, zusammen. Auch das Benzin ist knapp. In zwei Wochen ist der Preis für einen Kanister mit 20 Litern von 600 auf 1.000 Rubel gestiegen. Die Tankstellen werden nicht beliefert, da die Fahrer der Tankwagen den Treibstoff lieber am Straßenrand verkaufen. Die Müllabfuhr bekommt bei diesem Vertriebssystem nicht genug Benzin. Der Müll wird deshalb nur unregelmäßig abtransportiert, Verwesungsgeruch dringt aus vielen Hausfluren.
Der Wagen stoppt vor einem Hochhaus. Im Souterrain haben die Freischärler die Räume einer Milizstation übernommen. Im Flur und Versammlungsraum steht ein fünfzig Jahre altes sowjetisches Maschinengewehr mit Stahlrädern, an der Wand hängt die Fahne der ersten armenischen Republik, und an den Tischen spielen zwei uniformierte Männer unter einer schummrigen Neonröhre Schach.
Albert ist von den Freischärlern als Kommandant gewählt worden. Ein Plakat in seinem Büro erinnert an den Genozid. Am 24.4. 1915 begann die grausame Vernichtung von zwei Millionen Armeniern durch die Türken. Auf dem Schreibtisch liegt eine Landkarte: Orangefarbig füllt das armenische Reich fast die gesamte Fläche zwischen dem Kaspischen Meer und dem Mittelmeer aus. Diese größte Ausdehnung Armeniens wurde unter dem kriegerischen König Tigran II. errungen. Aber das ist sehr lange her, es war in den Jahren 95 bis 65 v. Chr.
„Alle unsere Männer kämpfen ohne Bezahlung. Eine Gruppe kämpft, nach vier Wochen kommt sie zurück, dann fährt eine andere Gruppe.“ Sie müßten sich um alles kümmern, selbst die Waffenbeschaffung, die Suche nach Medikamenten, der Transport von Lebensmitteln und Zigaretten gehörten dazu. In jedem der acht Bezirke Jerewans gebe es solche Zentren der Freischärler. Seit dem Herbst 1991 habe Armenien auch ein Verteidigungsministerium. Dort werden die Einsätze der Freischärler koordiniert. Rund 10.000 Fedajin seien von dort mit Waffen ausgerüstet worden. Es werde daran gearbeitet, eine armenische Armee aufzubauen.
Im Flur sitzt der 45jährige Hamlet. „Mein 19jähriger Sohn ist gestern nach Karabach geflogen. Er hat seiner Mutter nur einen Zettel hingelegt. Sie ist jetzt vor Angst sterbenskrank“, erklärt er mit monotoner Stimme und gesenktem Kopf. Vermutlich sei der Sohn mit dem Fallschirm zum Partisanenkampf hinter den feindlichen Linien abgesprungen. Im Norden Karabachs sei ein Dorf erobert worden. Von diesen Männern werde wahrscheinlich keiner zurückkehren. Die Aseris seien wie Tiere, selbst die Leichen ihrer Soldaten verstümmelten sie und schnitten ihnen Kreuze ins Fleisch. Er habe ein totes Kind gesehen. Die Aseris hätten ihm die Finger abgeschnitten, daraus eine Kette gemacht und dem Kind um den Hals gehängt. „So was können nur Moslems machen, deshalb müssen die Christen sich unterstützen. Warum gestattet die deutsche Regierung, daß sowjetische Waffen der NVA über die Türkei an die Aseris geliefert werden?“ fragt Hamlet. „Die Moslems sagen, daß die Zeit kommt, in der sie die ganze Welt beherrschen und die Christen ihre Sklaven sind. Ich bin ein Kämpfer und werde das nicht mehr erleben, aber es wird die Zeit kommen, in der alle Christen sich gegen die Moslems vereinigen.“
Ein Freund von Hamlet hat 1989 im Norden Armeniens eine aserbaidschanische Zivilistin erschossen. Sie habe, um selbst fliehen zu können, ihre zwei Kinder von sich gestoßen, verteidigt Hamlet ihn. „Eine Christin schützt ihre Kinder“, habe der Freund gesagt und sie nur deshalb erschossen. Eine armenische Frau und Kämpferin aus Sumgait sei dort gewesen. Sie habe auch die zwei aserbaidschanischen Kinder getötet. Schließlich habe diese Kämpferin 1988 bei dem Pogrom der Aserbaidschaner in Sumgait auch ihre ganze Familie verloren.
Das Telefon klingelt. Die Kämpfer ihrer Gruppe sind von der armenischen Grenze nach Karabach gebracht worden. Bei Kämpfen um den Ort Vank gegen die Angriffe einer Übermacht von Aseris gab es bis zum Mittag schon fünf Tote und fünfzehn Verletzte bei den Fedajin. Schweigend sitzen die Männer und rauchen. Das ständig laufende Radio in Alberts Büro ist auf einmal zu hören, die getragene Melodie einer Duduk, einer armenischen Flöte, durchdringt den Raum.
„Wir müssen sofort zum Flughafen, um die Verletzten mit einem Hubschrauber aus Vank herauszuholen“, schlägt ein junger Student vor. „Hier gibt es keine Disziplin. Sollen wir vielleicht ein Flugzeug entführen?“ brüllt ihn Vartan an, der vom Verteidigungsministerium zurück ist.
Im Eingang tauchen zwei schüchterne Frauen auf. Sie sind Mütter von Jungen, die ohne ihr Einverständnis mit der Gruppe kämpfen. „Wir haben keine neuen Informationen“, erklärt Vartan ihnen freundlich, um, nachdem die Frauen gegangen sind, wieder zu schimpfen: „Der ganzen Tag muß ich mich um die Familien kümmern. Die Familien sollten lieber mit uns kämpfen.“
Dann erscheinen zwei Piraten mit Rucksäcken. Sie küssen die Männer zur Begrüßung, sie gehören zu der Gruppe, die heute aufbricht. Sie tragen die gefleckten Kampfanzüge der sowjetischen Armee in Afghanistan. Am Gürtel baumeln Messer. Ihre Haare sind von grünen Tüchern verhüllt, die im Nacken zu einem Knoten gebnden sind.
„In den Bergen ist es staubig. Wir können uns oft wochenlang nicht die Haare waschen“, erklärt der 25jährige Sajat die Maskerade. Aber es ist mehr. Als sie in den Geländewagen springen, um Zigaretten und Lebensmittel im Zentrum einzukaufen, flattern die Enden der Tücher wie Fahnen im Wind. Sie rasen hupend und mit heruntergekurbelten Seitenfenstern durch die Hauptstraßen. Niemand kann übersehen, daß die Jungen mit den Piratentüchern an die Front fahren. Sajat und sein Freund genießen die bewundernden Blicke der jungen Mädchen auf ihrer Spritztour durch Jerewan.
Im Zentrum wird ein improvisiertes Abschiedsessen vorbereitet. Sajat zerschneidet Schafskäse und Wurst. „Die Klinge des Messers ist aus einer Mercedes-Stoßstange gearbeitet“, erklärt er stolz. Er habe das Messer in Stepanakert von einem Mitglied der Arzach- Regierung geschenkt bekommen. Die Männer am Tisch umwickeln Wurst und Käse mit Lawasch, einem papierdünnen Fladenbrot. Sajat hebt das Wodkaglas und spricht einen Toast: „Ich trinke auf die Männer, die hierbleiben. Ich trinke auf die Männer, die mit mir nach Arzach fahren. Ich hoffe, daß wir uns alle wiedersehen. — Gott mit uns. — Freiheit oder Tod.“
Vartan ist deprimiert: „Ich bin müde“, flüstert er. „Jetzt ist der Sommer vorbei, und ich war noch nicht einmal am Sewansee.“ Er liebt diesen See, vor drei Jahren, als er noch als Kfz-Mechaniker in der Wolga-Fabrik gearbeitet hat, ist er oft dort gewesen. „Sie sind noch so jung“, blickt er bekümmert auf die aufgeregten Fedajin, „vielleicht werden wir sie nicht wiedersehen.“
Mikail liegt resigniert in seinem Bett, es besteht der Verdacht auf Gelbsucht. „Ich bin schon sechs Monate im Krankenhaus.“ Der Junge, der bei meinem ersten Besuch noch heldenhaft seine Rückkehr in den Kampf ankündigte, scheint wie ausgewechselt. „Das größte Problem ist, daß ich für beide Beine Prothesen brauche. Man wird mich nach Deutschland bringen müssen, damit ich wieder gehen kann. Können Sie die Armenier in Hamburg fragen, ob sie für mich Geld sammeln?“ In der Stille des abgedunkelten Raumes ist nur das Schluchzen der Mutter zu hören.
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