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„Tausende werden in der Kälte sterben“

Die UNO-Truppen können ihre humanitären Aufgaben in Bosnien-Herzegowina nicht erfüllen und fühlen sich von der internationalen Staatengemeinschaft im Stich gelassen/  ■ Aus Zagreb Andreas Zumach

Die europäischen Regierungen sind bislang nicht bereit, der UNPROFOR die dringend benötigte Unterstützung zu geben. Sie haben immer noch nicht begriffen, welche Katastrophe in Bosnien- Herzegowina bevorsteht.“

Derartige Äußerungen sind häufig zu hören im Zagreber Hauptquartier der UNO-Schutztruppe in Kroatien. Seit dem Beschluß des UNO-Sicherheitsrates Ende August, 6.000 bis 7.000 UNO-Soldaten nach Bosnien- Herzegowina zu schicken, ist kaum etwas passiert. Lediglich Vorausteams von jeweils zehn Personen sind eingetroffen. Doch der Winter wartet nicht. In den Bergregionen um Mostar oder südlich von Banja Luka herrscht bereits bittere Kälte. „Spätestens im November wird die Welt erfrorene Kinder auf den Fernsehschirmen sehen“, befürchtet ein führender UNPROFOR-Verantwortlicher. Er rechnet mit „vielen tausend Kältetoten“.

Im Hauptquartier der UNO- Truppe geht man davon aus, daß „in diesem Falle wieder wir die Prügel beziehen“. Dabei treffe die Hauptschuld die einzelnen nationalen Regierungen. Nur vier Länder — Kanada, Frankreich, Spanien und Großbritannien — haben sich bislang grundsätzlich bereit erklärt, die zur Begleitung von Hilfstransporten dringend benötigten Infanterietruppen nach Bosnien- Herzegowina zu schicken. Doch „aus Angst vor Verlusten eigener Soldaten“ würden „immer neue Gründe erfunden, um die Entsendung herauszuzögern“. Ein hoher UNPROFOR-Offizier richtet diese Kritik insbesondere an die Regierung in London, „die doch willens und in der Lage“ gewesen sei, „binnen 48 Stunden 2.000 Soldaten nach Nordirland oder auf die Falkland-Inseln zu verlegen“. Weitere sechs Länder — Dänemark, die Niederlande, Belgien, Portugal, Norwegen und die USA — wollen nur Personal für die Logistik schicken. Selbst in den Staaten, die grundsätzlich zur Beteiligung an der UNPROFOR bereit sind, werden aus Sicht der Verantwortlichen im Zagreber Hauptquartier „die Prioritäten falsch gesetzt“. Denn um überhaupt zu Hilfsbedürftigen zu gelangen, braucht die die UNPROFOR — dringender noch als Soldaten — Personal zum Wiederaufbau zerstörter Brücken oder Einheiten mit Spezialgeräten zum Schneeräumen. Rußland, das als bislang einziges Land die Entsendung entsprechender Spezialisten angekündigt hatte, nahm diese Zusage vor wenigen Tagen zurück. Mit den bisher 1.500 UNPROFOR-Soldaten in Bosnien-Herzegowina lassen sich die Aufgaben, die der Truppe durch Resolutionen des Sicherheitsrates gestellt sind, auch nicht annähernd erfüllen.

Die jüngste Resolution des Sicherheitsrates von letzter Woche zum Verbot militärischer Flüge hat daher zunächst keinerlei praktische Wirkung. Die UNPROFOR- Beobachter, die die Einhaltung des Verbots durch Kontrollen an allen Flughäfen überwachen sollen, gibt es in annähernd ausreichender Zahl nicht. Die wenigen dafür in Frage kommenden Experten hat der neu ernannte UNO-Beauftragte zur Beobachtung der Bürgerkriegssituation in Georgien am Montag auch noch aus Zagreb nach Tiflis mitgenommen. Im UNPROFOR-Hauptquartier wird nicht ausgeschlossen, daß die bosnischen Serben unter diesen Umständen ihre Kampfflugzeuge auch noch weitere zwei, drei Wochen einsetzen werden, ohne daß dies irgendwelche Konsequenzen hätte. Doch selbst wenn die Beobachter in kürzester Zeit zur Verfügung stehen sollten, ist dies noch keine Garantie für die Umsetzung der Resolution des Sicherheitsrates. Ein UNPROFOR-Verantwortlicher: „Wenn die Beobachter beim serbischen Flughafen in Banja Luka eintreffen und dem örtlichen Kommandeur die Resolution unter die Nase halten, deren Einhaltung Serbenführer Karadzic zugesagt hat, dann sagt der vielleicht: Wer ist Karadzic?“

Auch die vom Sicherheitsrat beschlossene Erweiterung des Mandats der UNPROFOR von Sarajevo und einigen anderen Regionen auf ganz Bosnien-Herzegowina steht bisher nur auf dem Papier. Selbst die Aufklärung ist völlig unzureichend. „Wir haben lediglich eine höchst ungenaue, lückenhafte Vorstellung, was in unserem Mandatsgebiet vor sich geht“, räumen die UNPROFOR-Leute ein. Westliche Nachrichtendienste, die zum Teil über sehr viel bessere Informationen verfügten, gäben diese nicht an die UNPROFOR weiter. Als zusätzliches Dilemma empfinden die UNO-Soldaten die „offensichtliche Diskrepanz zwischen der Genfer Jugoslawienkonferenz und den Ereignissen hier im Kriegsgebiet“. So besteht für die UNPROFOR „kein Zweifel, daß die bosnischen Serben und Kroaten eine Vereinbarung über die Aufteilung Bosnien-Herzegowinas abgeschlossen, wenn auch noch nicht unterschrieben haben“.

Im Zagreber Hauptquartier des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) wird die Lageeinschätzung der UNPROFOR geteilt. Auch die Bemühungen des UNHCR, über dem Landweg ausreichend Nahrungsmittel in Flüchtlingslager oder nach Sarajevo zu bringen, scheitern an der mangelnden Bereitschaft nationaler Regierungen, LKWs mitsamt Fahrern bereitzustellen. Zusätzlich erschwert wird die UNHCR-Arbeit durch die Weigerung der Regierung in Zagreb, die Errichtung weiterer dauerhafter Flüchtlingsunterkünfte in Kroatien zuzulassen. Flüchtlinge sollen nur noch maximal zwei Wochen in Transitcamps Aufnahme finden. Ein Projekt zum Bau winterfester Dauerunterkünfte, für das das UNHCR die dänische Regierung gewonnen hatte, kann daher zunächst nicht umgesetzt werden.

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