: Ideologischer Virus aktiv?
■ Autorin Rutschky läßt an Kindesmißbrauch-Expertinnen kein gutes Haar
-Expertinnen kein gutes Haar
Argumente wurden eigentlich kaum ausgetauscht. „Frau Rutschky, ich als Überlebende fühle mich von Ihnen total verletzt“, hatte eine Betroffene zu Beginn der Lesung am Dienstag abend gesagt, bevor sie türenschlagend den Hörsaal der HWP verließ. Die Berliner Publizistin Katharina Rutschky ist Anfeindungen dieser Art gewöhnt, seit sie im April dieses Jahres ein Buch veröffentlichte, das die Debatte um den sexuellen Mißbrauch auf den Kopf stellt.
Kern ihrer Argumentation: Mit Hilfe übertrieben hoher Zahlen werde in einer Allianz von Grün bis CSU eine Panikmache betrieben, die eine Verteufelung alles Sexuellen zur Folge habe. So sei die oft zitierte Zahl von 300000 Mißbrauchsfällen pro Jahr in der alten Bundesrepublik nur durch eine willkürlich gewählte Dunkelziffer (Faktor 20) zustande gekommen. Von einer besorgniserregenden Zunahme dieser Verbrechen könne nicht die Rede sein. Die Zahl der statistisch erfaßten Fälle war von 1973 bis 1984 sogar gesunken: von 15556 auf 10589. 1990 gab es 16000 Anzeigen.
Doch die studierte Lehrerin geht in ihrer Kritik noch weiter. Sie rechnet vor allem mit den von Feministinnen geführten Beratungszentren wie „Wildwasser“ in Berlin ab, die auch zuhauf falsche Diagnosen gestellt und Menschen ins Unglück gestürzt hätten. Erst auf dem Umweg über das sexuell mißbrauchte Kind sei es gelungen, eine feministische Definition der Sexualität gesellschaftsfähig zu machen, die da heißt: Männer sind in ihrer Sexualität brutal. Die Folge: Gerade sogenannte „neue Väter“, die sich um die Pflege ihrer Kinder kümmern, seien verstärkt Verdächtigungen ausgesetzt, wüßten zum Teil nicht mal, ob sie mit dem Kind noch baden dürften.
Laut Rutschky grassiert die Angst vor dem Mißbrauch wie „ein ideologischer Virus“, der jegliche Professionalität zerstört: „am Wochenende auf Fortbildung und am Montag gleich den ersten Fall von Mißbrauch entdeckt“. Dabei sind es vor allem junge, weibliche Sozialpädagogen und Psychologen, denen sie einen übertriebenen Ehrgeiz unterstellt: „Sobald mit dem Kind etwas ist, heißt es ‘sexueller Mißbrauch'“.
Für die Zuhörerinnen in der HWP starker Tobak, stellt doch Frau Rutschky die in den letzten Jahren gewachsene Infrastruktur an speziellen Einrichtungen infrage („Wenn man so eine Stelle einrichtet, wird sie nicht ihr Geld dafür bekommen, daß sie wenig Fälle bearbeitet“). Die anwesenden Vertreterinnen der Beratungsstelle Allerleirauh äußerten sich nicht, wurden aber unaufgefordert von anderen Zuhöhrerinnen verteidigt. Die Kritik von Frau Rutschky sei zu undifferenziert und pauschal.
Eine Lehrerin berichtete von einem Verdachtsfall, bei dem Allerleirauh geraten hatte, nichts zu unternehmen und statt dessen das Kind zu stärken, ihm das „Nein-Sagen“ beizubringen. Dazu die Autorin: „Das sollten Lehrer sowieso häufiger tun, daß sie Kindern zu mehr Selbstvertrauen verhelfen.“ Wie man es auch dreht und wendet, Katharina Rutschky läßt an der Expertinnenarbeit zur Mißbrauchsproblematik kein gutes Haar. Eigentlich schade, daß ein Dialog auf dieser Grundlage nicht zustande kam. Kaija Kutter
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