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Somnamboulevard — Heute mal Gaudium vacui Von Micky Remann

„Eben stand ich noch vorm Abgrund, jetzt bin ich einen Schritt weiter!“ Für die einen ist das Bergsteiger-Bonmot ein makabrer Kommentar auf den Fortschrittsgedanken, für uns, die Passanten des Somnamboulevards, hingegen ein Erlebnis, das zur Grundausstattung gehört: nämlich der Sturz über die Kante des Wachzustands, der ja als stabiler Wirklichkeitsfelsen gilt, hinein in den taumelnden Abgrund des Schlafes.

Wie, wenn nicht fallend, hätten wir dahin gelangen können, wo wir jetzt sind, nämlich in den Traum? Im Grunde also eine leichte Übung, die wir da an beiden Rändern des Schlafes meistern, alltäglich, routiniert, abends in diese Richtung, morgens retour in jene; und doch ist es ein monumentaler Kollaps, wenn die eine Realität, mir nichts dir nichts, in der nächsten verpufft. Hand aufs Herz, liebe Leserin und lieber Leser droben im Wachzustand, wie würdest Du es finden, wenn der Boden, auf dem Du im Moment stehst, urplötzlich unter Dir wegsacken würde — huh! — wie in einer waschechten viktorianischen Ohnmacht, wenn alle Festigkeiten, die eben noch galten, sich in einen bodenlosen Horror vacui aufgelöst hätten und wenn das einzige, was von der bewußten Welt übrigbleibt, ein schwindelerregendes Trudeln wäre, ohne Bungee-Gummi und mit nichts zum Dranklammern als dem Nichts?

Es mag sein, daß Dich die Vorstellung inkommodiert, aber wie, bitte schön, vollziehst Du denn üblicherweise den Sprung vom Wachen zum Schlafen? Irgendwie scheint er Dir ganz gut zu gelingen oder Du würdest nie im Leben eingeschlafen sein beziehungsweise Dich nie mehr vom Schlaf in den Abgrund des Wachens getraut haben. Hast Du aber, und zwar mit demselben Vorschußvertrauen, mit dem Du davon ausgehst, daß Deine Zahnpasta nicht vergiftet ist. Und bisher hast Du den Weltsturz auch jedesmal überlebt. Seltsam, aber Tatsache. Was kann Dich dann noch schockieren beim Schritt ins Bodenlose? Ehrlich gesagt, das fragen wir uns hier unten schon die ganze Zeit, und wieso die Leute immer ins Knieschlottern verfallen, wenn sie an den Rand ihrer Welt gekommen sind und sich vor dem nächsten Schritt drücken wie der Teufel vorm Sprung ins kalte Weihwasser. Unsere Arbeitshypothese lautet denn auch: Panik am (gähnenden!) Abgrund haben nur diejenigen, die vergessen haben, wie nonchalant sie täglich einschlafen. Denn wenn sie sich erinnern würden, sähen sie, daß jeder Abgrund eine zustandsspezifische Illusion ist, die sich in dem Moment aufhebt, in dem sie beherzt in die Tiefe sausen. Kolumbusmäßig gesprochen: Wenn Du lange genug über den Rand der flachen Erde hinaussegelst, wird sie automatisch zur Kugel. Mit jedem Schritt über die Kante verlängerst Du nach vorne den Boden, den Du hinten zu verlassen meinst, und gegen solch magische Landgewinnung sind alle holländischen Deichbauten ein Krippenspiel! In die Hamletsche Sollbruchstelle zwischen Grund und Abgrund, bodenloser Wachheit und selbstgezimmerter Traumwelt rufen die Somnambulbergsteiger im zittrigen Chor: „Schreck oder Jubel, Horror vacui oder Gaudium vacui? Das ist hier die Frage!“

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