■ Nach der Fraktionssitzung der SPD mit Manfred Stolpe: Des Ministerpräsidenten Verklärung
Die SPD-Bundestagsfraktion, vertreten durch ihren Vorsitzenden Hans-Ulrich Klose, hat die Aufklärungsarbeit am „Fall Stolpe“ durch ein gänzlich neues Verfahren bereichert: die große Aussprache, gefolgt von allgemeiner Rührung. Wenn doch nur, so Klose und Stolpe gemeinsam gegenüber der ARD, Ossis und Wessis immer so solidarisch, so rückhaltlos ehrlich miteinander umgingen wie die SPD-Parlamentarier mit dem brandenburgischen Ministerpräsidenten in gemeinsamer Sitzung, es wäre besser bestellt um die deutsche Einheit. Vertrauen ist's, was nottut — und Einfühlsamkeit in die Lage eines tapferen Mannes, der sich, um den Menschen zu helfen, vor etwas Dreck an den Händen nicht scheute. Was zählt da, angesichts dieses Gemeinschaftserlebnisses, die dürre, pedantische Nachfrage, ob nicht vielleicht weitere Zeugen die Aussagen des Obersten Roßberg wg. Medaillenverleihung erhärten könnten? Ja, im Mai, als Roßberg den Ministerpräsidenten entlastete, da sprach noch ein Rest Anstand aus dem Stasi-Schergen. Jetzt ist der Oberst vollends unglaubwürdig. Wir aber erleben die Apotheose Manfred Stolpes. Für die Sozialdemokraten am Dienstag abend war er bereits eine den Niederungen jedes Verdachts entrückte Symbolfigur.
„Ich fürchte Gott und sonst nichts auf der Welt.“ Für die Menschen, speziell für seine Brandenburger, nimmt es Stolpe mit jedem auf, selbst vor seiner eigenen Vergangenheit schreckt er nicht zurück. Daß er sie erst peu a peu enthüllte, geschah gewiß mit Rücksicht auf seine Landeskinder, die sich erst in dem immer komplexer werdenden Interpretationsrahmen zurechtfinden mußten. Denn nicht auf die Fakten kommt es an, sondern darauf, wie man sie bewertet. Ob man, die Praxis der SED-Herrschaft im Kopf, die notwendigen Gratwanderungen versteht, die Balance zwischen dem, was des Kaisers und dem, was des Gottesvolks ist. Jedem, der sich in diese Bedingungen wirklich eingefühlt hat, wäre es auch ohne Schwierigkeiten geglückt, die Medaillenaffäre richtig zu interpretieren: Die Stasi, besorgt, daß die Verdienste des realistisch denkenden Teils der Kirchenoberen von der Regierung nicht hinreichend anerkannt würden, beschloß, etwas nachzuhelfen und in ihr eigenes Ordensreservoir zu greifen. Schließlich sprang sie auch anderswo ein, wo Not am Mann war, beispielsweise in der Charité.
Stolpe aber nahm, stellvertretend für die gesamte „Kirche im Sozialismus“, die Auszeichnung durch den Stasi-Beauftragten entgegen, der seinerseits die säumige Staatsmacht vertrat. Mochte der Orden ihm auch ans Revers geheftet sein, Empfänger war das Kirchenkollektiv. Deshalb ist es ganz unverständlich, daß Stolpe den persönlichen Empfang der Auszeichnung bestreitet. Er muß wohl das Datum vergessen haben, was ja auch kein Wunder ist, wenn man die Vielzahl seiner Termine mit der Staatsmacht in Rechnung stellt. Aber dieser Irrtum läßt sich leicht korrigieren. Im übrigen aber gilt: „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“ Christian Semler
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