: Wie soll eine tote Frau ein Kind austragen? Apparate machen's möglich. Der Fall der 18jährigen Monika P., die nach einem Unfall gehirntot in der Uniklinik Erlangen liegt, wirft ethische Fragen auf. Die Ärzte meinen, „der verstorbenen Mutter (sei) die Benutzung ihres Körpers zugunsten des Kindes sicherlich zumutbar“.
Pränatales Leben um jeden Preis
Die Sprache kann nicht fassen, was der Erlangener Chirurg Johannes Scheele, Professor und Leiter der Chirurgischen Klinik der Universität Erlangen- Nürnberg, vorhat: „Tote Mutter soll Baby austragen“, titelte die Nürnberger Zeitung. Wie soll eine Tote ein Kind austragen? Wie soll sie überhaupt noch etwas tun? Die 18jährige Marion P., die am 5. Oktober mit dem Auto verunglückte und drei Tage später an ihren schweren Kopfverletzungen starb, kann nichts mehr für ihr Kind tun. Sie ist tot, genauer: hirntot. Ihre Hirnfunktionen, die das Leben im Körper steuern, sind endgültig zusammengebrochen.
Da ihr Körper aber auf der Intensivstation lag, als dies geschah und festgestellt worden war, daß sie im vierten Monat schwanger ist, sollen die Körperfunktionen nunmehr bis zum März nächsten Jahres aufrechterhalten werden, um sie für die Entwicklung des Embryos nutzbar zu machen. Dann wird das Kind per Kaiserschnitt aus der Gebärmutter des lebenden Leichnams herausgeholt. Anschließend werden die Apparate, die Herz- und Lungenkreislauf in Betrieb gehalten haben, abgestellt. So haben es Johannes Scheele und andere ÄrztInnen aus der örtlichen Frauen-, der Kinder- und der Nervenklinik sowie Rechtsmediziner und Juristen beschlossen.
Zur Begründung seines Experiments führt Johannes Scheele an, das Lebensrecht des Ungeborenen beinhalte auch den Anspruch auf den Einsatz moderner medizinischer und technischer Hilfe. Deshalb sei „der verstorbenen Mutter die Benutzung ihres Körpers zugunsten des Kindes sicherlich zumutbar“. Bisher, so die Auskunft der behandelnden Ärzte, sei das werdende Kind nicht geschädigt. Die Mutter von Marion P., die das Baby — wenn es denn zur Welt kommen sollte — versorgen und aufziehen wird, hatte es zunächst abgelehnt, ihre Tochter weiter künstlich beatmen und ernähren zu lassen. Nach einem Gespräch mit Chefarzt Scheele hat sie jedoch ihre Meinung geändert. Scheele erklärte, die Eltern seien nunmehr „bereit, die erheblichen seelischen Belastungen zu tragen“. Der Vater der Toten beantragte die Pflegevormundschaft für das Ungeborene.
Die künstlich weitergeführte Schwangerschaft einer Toten in Erlangen ist nicht der erste Fall. Soweit bekannt, wurde in San Francisco im April 1983 erstmals ein gesundes Kind durch Kaiserschnitt entbunden, dessen Mutter neun Wochen lang künstlich am Leben erhalten worden war. Zwei weitere Fälle wurden dadurch bekannt, daß GegnerInnen und BefürworterInnen der ärztlichen Maßnahmen erbittert stritten. Beide Kinder — das eine wurde auf Betreiben des Vaters, das andere nach dem Willen der Ärzte künstlich im toten Mutterleib gereift — starben kurz nach der Geburt. In vier anderen Fällen kamen Kinder lebend zur Welt. Deren Mütter waren aber zu einem erheblich späteren Zeitpunkt in der Schwangerschaft gestorben.
Die Intensivstation der Erlangener Universitätsklinik, auf der der jetzt etwa zehn Zentimeter große Fötus im Leib seiner toten Mutter beobachtet und ernährt wird, ist streng abgeschirmt. Nicht abschirmen können sich die MedizinerInnen aber gegen die öffentliche Debatte, die ihr Experiment auslöst. Per Anruf können Bild- LeserInnen einen Kurz-Ethik- Kurs absolvieren und mit „Ja“ oder „Nein“ entscheiden, ob „das Leben des Kindes vorgeht“ oder „man die Maschinen sofort abschalten sollte“. Das Forsa-Meinungsforschungsinstitut ermittelte im Auftrag des Senders RTL, daß mehr als die Hälfte von 1.004 Befragten die hirntote Frau sterben lassen würden. Mehr Frauen, nämlich 57 Prozent, als Männer (48 Prozent) finden dagegen einen würdigen Tod der Mutter wichtiger als die Schwangerschaft.
Die Bild-Zeitung, die den Fall in die Schlagzeilen hob, macht sich Gedanken über die Rolle der „Oma“ des Ungeborenen: „Soll die Oma den Bauch ihrer toten Tochter und damit das Vier-Monate-Baby streicheln?“ Tatsächlich ist bis heute wenig bis nichts darüber bekannt, wie sich ein Kind entwickelt, das in einem Leichnam ausgebrütet wird. Gleichwohl fand sich gestern ein Hamburger Experte für pränatale (also vorgeburtliche) Psychologie, Werner Gross, der versicherte, eventuelle Defizite in der seelischen Entwicklung des Kindes „könnten nach der Geburt wieder ausgeglichen werden“. Frauen, denen während der Schwangerschaft von GynäkologInnen geraten wird, möglichst gesund zu leben und eine positive Einstellung zum Kind zu entwickeln, um dessen Gedeihen zu fördern, dürften sich über diese positive Einschätzung wundern. Dem Fötus in der Toten fehlen immerhin gewisse sinnliche Erfahrungen, vor allem aber die vorgeburtliche und prägende Beziehung zur Mutter, die andere Kinder mitbekommen.
Auch meldeten sich gestern verschiedene Ethiker zu Wort, darunter der Moraltheologe Franz Furger aus Münster, die die Erlangener Maßnahmen zur Erhaltung des werdenden Lebens für vertretbar halten. So hatte sich auch Oberkirchenrat Hermann Barth vom Referat für Ethik-Fragen der Evangelischen Kirche in Deutschland geäußert, aber vor „einem Experiment mit völlig ungewissem Ausgang“ gewarnt. Für den Münchner Moraltheologen Johannes Gründel ist die Lebensrettung um jeden Preis dagegen keine christliche Forderung.
Weibliche Experten reagierten überwiegend ablehnend auf das Erlangener Experiment. Es werde nicht nur mit der Toten experimentiert, sagte Erika Feyerabend vom Essener Gen-Archiv gestern der taz, sondern auch mit dem Fötus. Während in der Transplantationsmedizin eindeutig sei, daß Organe in einem um so schlechteren Zustand seien, je später sie aus dem Körper eines Toten entnommen würden, gehe man in Erlangen davon aus, mit dem künstlich am Leben erhaltenen Körper der Mutter, einer entsprechenden Ernährung sowie Medikamenten und Hormonen über eine lange Zeit alle organischen Bedürfnisse des Kindes befriedigen zu können.
Das Erlanger Experiment sei nichts als „die logische Folge von Entwicklungen in der Medizin der letzten Jahrzehnte“. Die Frau werde zunehmend als „intensivmedizinische Apparatur“, als „bloßes Gefäß“ begriffen, das Lebensrecht des Fötus, der ja in allem von der Mutter abhängig sei, über die Frauen gestellt. Bereits 1988 hatte der australische Bioethiker Paul Gerber, Dozent an der Universität von Queensland, gefordert, gehirntote Frauen als Leihmütter und Organspenderinnen zu verwenden. Dies sei — mit Zustimmung der Angehörigen — „fortschrittlich und ethisch vertretbar“. Zum Jahrestag der Französischen Revolution hatte der internationale Ärztezusammenschluß „Der Fötus als Patient“ erstmals „die Rechte des Fötus“ proklamiert, zu denen auch der Anspruch auf die moderne Apparatemedizin vor der Geburt gehöre. Bettina Markmeyer
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