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Abschied von Willy Brandt: Berlin pur

■ Beim Defilee im Schöneberger Rathaus am Sarg des Ex-Kanzlers waltete nicht nur würdevolle Andacht/ Auf der Straße stritten sich Anhänger und Verächter des Politikers

Schöneberg. Während Tausende von BerlinerInnen gestern in stiller Andacht am Sarg von Willy Brandt im Schöneberger Rathaus defilierten, kam es am Rande zu einigen bemerkenswerten Szenen. Hinter den Blumenbuketts lieferten sich einige Fotografen mit den Wachmeistern fast eine Prügelei, weil sie daran gehindert wurden, sich dem Sarg auf wenige Meter zu nähern. Die eigens für die Presse im Foyer aufgebaute Empore war den Herren der knipsenden Zunft natürlich nicht nah genug. Ein sturzbesoffener Journalist eines Fernsehteams pöbelte lauthals herum, während die Berliner SPD-Abgeordneten ihre Rosen am Sarg niederlegten, weil er sich von anderen Pressevertretern in der Sicht behindert fühlte.

Auch die trauernden Berliner bekamen das mangelnde Taktgefühl der Fotografen hautnah zu spüren. Trotz mehrfacher Bitte der Wachtmeister, den Leuten nicht direkt ins Gesicht zu blitzen, hielten die Fotografen aus unmittelbarer Nähe munter drauflos. Kaum daß die Trauernden dem Sarg den Rücken gekehrt und sich die Tränen aus den Augen gewischt hatten, hielt ihnen am Ausgang ein Rundfunkreporter sein Mikrophon vor den Mund, um ein paar betroffene O-Töne einzusammeln: Was hat Willy Brandt ihnen persönlich bedeutet?

Auch auf dem John-F.-Kennedy-Platz, wo die Menschenschlange geduldig auf den Einlaß wartete, zeigte sich Berlin, wie es leibt und lebt. Eine 46jährige Mulattin aus Brasilien wurde von zwei 80jährigen Rentnerinnen, die sich als Trümmerfrauen ausgaben, übel beschimpft, weil sie zum Gedenken für Willy Brandt ein Plakat aufgestellt hatte, auf dem es hieß: Farewell! Thank You! Now we have no politicians to stop neo-terrorism!

„Die Ausländer werden immer unverschämter, die sollen sich endlich fortscheren“, wetterten die beiden Alten lauthals über die Brasilianerin. Auf Nachfrage stellte sich heraus, daß sie nur aus Schaulust gekommen waren. „Ich denke gar nicht daran, mich hier für Willy Brandt anzustellen, weil der seine Frau und seine drei Kinder verlassen hat“, sagte die eine erbost. Ihre Freundin ergänzte: „Daß er damals ermöglicht hat, daß wir in den Osten fahren können, war gut, aber diese Geliebte, dieses durchtriebene Weib“, spielte sie auf Brandts Witwe, Brigitte Seebacher-Brandt an, „hat doch nichts für uns Berliner übrig. Sonst dürfte der Leichenzug ja durch die Stadt fahren.“

Ein 61jähriger Mann mit russischer Pelzmütze, der wenige Meter weiter Flugblätter verteilt hatte, versuchte, die beiden alten Damen eines Besseren zu belehren, aber sie ließen ihn mit einem verachtungsvollen Achselzucken brüsk stehen. Der Mann hatte auf seiner olivgrünen Jacke ein Bild von Willy Brandt geklebt und darunter ein großes rotes Plastikherz befestigt. Voller Stolz erzählte er von sich: „Ich bin Willys Machthelfer und wegen ihm sogar schon mal ins Wasser gegangen“, meinte er und zog einen vergilbten Artikel aus einer Boulevardzeitung und eine Postkarte mit einer persönlichen Widmung von Brandt aus einer Plastiktüte. In dem Zeitungsartikel von Oktober 1972 ist der damals noch deutlich jüngere Mann mit einem hochgehaltenen Schild, auf dem ein Foto von Brandt abgebildet ist, schwimmend im Rhein zu sehen: „Für Willy Brandt in den Rhein ging der Rettungsschwimmer Gerhard Krause. Der Vater dreier Kinder warb auf diese Weise für die SPD und ihren Vorsitzenden“, heißt es in dem vergilbten Zeitungsartikel. „Und auf die Brigitte lasse ich nichts kommen“, erregte sich der 61jährige. „Die hat Willy geliebt und bis zum Tode gepflegt. Die Rut hat doch zum Schluß immer nur gemeckert, daß er so wenig Zeit für sie hat.“ Plutonia Plarre

Siehe auch Seite 4

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