"Das Buch ist gefährlich"

■ Gespräch über Katharina Rutschkys "Erregte Aufklärung. Fakten & Fiktionen"

„Erregte Aufklärung. Fakten & Fiktionen“

Als die Berliner Publiszistin Katharina Rutschky vorigen Dienstag in der HWP ihre Thesen zum sexuellen Kindesmißbrauch vortrug, protestierten betroffene Frauen mit einem Schweigekreis vor der Tür, forderten zum Boykott der Veranstaltung auf. Die taz sprach mit zwei Frauen, die Kritik an dem Buch „Erregte Aufklärung. Fakten & Fiktionen“ äußern. Elke Zisser ist Lehrerin und Mitarbeiterin in der Bergedorfer Beratungsstelle Zornrot. Die Soziologiestudentin Teschaw ist selbst Betroffene. Sie hat das Buch für die Schwulen- und

Lesbenzeitung Dornrosa rezensiert.

taz: Was sagt ihr zur Behauptung Katharina Rutschkys, beim sexuellen Mißbrauch von Kindern werde mit falschen Zahlen Panikmache betrieben?

Elke Zisser: Mir ist es eigentlich vollkommen wurscht, ob jedes vierte Mädchen oder jedes zehnte oder jedes 400hundertste Mädchen betroffen ist, jedes einzelne ist eines zuviel. Deswegen ist Kindesmißbrauch nach wie vor ein Thema, auf das hingewiesen werden muß und ich denke, daß auch längst nicht alle, die darüber informiert sein müßten, es auch sind.

taz: Umstritten ist doch wohl die An-

nahme, daß jedes vierte Mädchen da-

von betroffen ist. Die Zahl soll dem Kinsey-Report von 1953 entstammen, in dem nach „sexuellen Erlebnissen“ gefragt wurde.

Zisser: Wenn ich Fortbildungen veranstalte, dann spreche ich auch nicht von jedem vierten Mädchen. Sondern ich versuche einfach darzustellen, was es bedeutet, in seiner Kindheit sexuell mißbraucht zu werden und daß es ganz wichtig ist, daß die Menschen, die mit Kindern arbeiten, Bescheid wissen.

Teschaw: Mir sind die Zahlen nicht egal. Und die Zahl „jedes vierte Kind“ kann nicht nur aus den 50er Jahren stammen. Die hat selbst der Kinderschutzbund, der mit Zahlen sehr vorsichtig ist, vor zwei Jahren 'rausgegeben. Es ist letztlich unwichtig, ob es jedes dritte oder vierte ist. Aber es ist nicht unwichtig, ob es jedes vierte oder jedes 20zigste ist. Weil daran deutlich wird, welche Dimension das hat und daß es ein gesellschaftliches Problem ist, weil staatlich geförderte Hilfsangebote nur für Probleme bewilligt werden, die gesellschaftliche Probleme sind.

Zisser: Ja, das ist richtig. Aber Katharina Rutschky versucht in ihrem Buch das Problem mit dem Argument 'runterzuspielen, diese Zahlen könnten übertrieben sein. Und da eben immer mit Dunkelzif-

fern gearbeitet werden muß, hat sie

damit ein leichtes Spiel. Deswegen sage ich, die Zahlen sind mir egal, die Menschen interessieren mich.

taz: Kann es nicht auch sein, daß „Sexueller Mißbrauch“ unter Pädagogen Modethema ist? Daß, wenn immer irgendwas mit dem Kind nicht stimmt, sexueller Mißbrauch vermutet wird?

Zisser: So passiert das einfach nicht. Das ist nicht unsere Erfahrung, daß eine Lehrerin, die irgendwas bei einem Kind beobachtet, sofort denkt: aha, das Kind ist mißbraucht worden und jetzt gehe ich sofort zu den Sozialen Diensten. Man muß das genau umgekehrt sehen. Ich finde es wichtig, wenn Kinder sich auffällig verhalten, daß die Möglichkeit eines sexuellen Mißbrauchs mit gesehen wird. Das hat nichts mit Mode zu tun, das hat einfach den Grund, daß erst seit einiger Zeit über dieses Thema offen gesprochen wird.

Teschaw: Es ist ja ganz im Gegenteil so, daß in aller Regel, selbst wenn Mißbrauch vermutet wird, eher andere Erklärungen gesucht werden. Das ist ja auch eine ungeheuerliche Vorstellung, daß soetwas dem Kind passiert, das man da vor sich hat. Und wenn Katharina Rutschky dazu auffordert, den Blick

wegzuwenden von Kindesmißbrauch

und möglichst nach anderen Ursachen zu suchen, dann fordert sie zu

etwas auf, das ewig lange Praxis

war und was jetzt gerade aufgebrochen wird, weil Kindesmißbrauch in der Tat ein Modethema ist, aber eines der Medien. Es ist kein Modethema der Sozialpädagogen oder irgendwelcher feministischer Hilfsorganisationen oder der Lesbenbewegung. Darüber, wie die Medien das behandeln, kann man sich in der Tat streiten.

taz: Stimmt es, daß der sexuelle Mißbrauch dramatisch zunimmt?

Teschaw: Nein. Von einer Zunahme kann man wirklich nicht sprechen. Die Aufklärung ist besser. Es werden immer mehr Fälle bekannt.

Zisser: Es trauen sich mehr erwachsene Frauen, mit dem Problem an die Öffentlichkeit zu gehen.

taz: Rutschky behauptet ja, daß häufig Fehldiagnosen gestellt werden. Es sei gar nicht klar, was unter sexuellem Mißbrauch zu fassen sei.

Teschaw: Eine Journalistin, die Rutschky zitiert, hat definiert: „Mißbrauch beginnt im Grunde bei allen Verhaltensweisen, die dem Mädchen vermitteln, daß Männer frei über es verfügen können, beispielsweise lüsterne Blicke, das Klatschen auf den Po oder Betasten und Begutachten körperlicher Rundungen. Aber auch die Anwesenheit eines sexuell erregten Erwachsenen kann unter bestimmten Umständen vergewaltigend sein, auch wenn er das Kind dabei nicht berührt“. Diese Definition ist erstmal richtig. Das heißt nicht, daß jede Begegnung mit einem sexuell erregten Erwachsenen schädigend ist.

taz: Darf es denn überhaupt Sexualität zwischen Eltern und Kindern geben?

Teschaw: Es gibt eine ganz einfache Formel: eine vergewaltigende Situation für das Kind fängt genau da an, wo die Freiwilligkeit aufhört, beziehungsweise, wo die Initiative des Kindes aufhört. Wenn also ein kleines Mädchen dem nackten Papa an den Schwanz fast, weil es das interessant findet, dann ist das sicher keine Inzestsituation. Wenn Papa dann anfängt, die Hand des Kindes festzuhalten und an seinem Schwanz zu reiben, um sich einen Orgasmus zu verschaffen, dann ist es das. Wenn die Initiative beim Kind liegt, wenn es selber auf die Idee kommt, seinem Vater einen zu wichsen, weiß ich nicht, wo der Schaden entstehen soll. Es sei denn, es ist Papa peinlich und er macht ein Riesenbrimborium darum, das ist aber was anderes.

taz: Aber es wird nun beklagt, daß Eltern schon zu sehr verunsichert sind.

Teschaw: Ich versteh nicht, warum es eigentlich so schwer sein soll, die Grenzen zu sehen?

taz: Dann ist das mit den verunsicherten Vätern nur ein Märchen?

Zisser: Also in unsere Beratungsstelle ist noch kein verunsicherter Vater gekommen. Verunsicherung merke ich vielmehr bei den Vätern und Müttern auf Elternabenden in Schulen. Und da muß ich sagen, ich bin froh, wenn die Eltern verunsichert sind, weil sie eben oftmals die Grenzen des Kindes nicht wahrnehmen. Wenn eine Mutter, die ihr Kind stillt, lustvolle Gefühle dabei hat, dann ist das in Ordnung. Wenn sie aus welcher Situation heraus auch immer das Gefühl hat, diese lustvolle Situation möchte ich jetzt gerne haben und deswegen das Kind anlegt, dann ist es für mich ein Beginn von Mißbrauch.

taz: Katharina Rutschky spricht ja von vielen Fehldiagnosen und übertriebenen Reaktionen. Sie sagt, das sexuell Mißbrauchte Kind sei eine Delikatesse für schlecht motivierte Pädagogen.

Teschaw: Ich finde es so absurd, was Frau Rutschky alles an Motiven unterstellt, welches Interesse entweder Betroffene daran haben könnten, eine Geschichte zu erfin-

den oder was Angehörige oder

Hilfsorganisationen für Interesse daran haben, einen Mißbrauch zu entdecken. Ich kenne mehrere mißbrauchte Frauen und ich kenne die Geschichte ihrer Aufarbeitung, weiß, wie ihr Umfeld reagiert hat und ich weiß von mir selbst, denn ich bin selber Betroffene: es ist überhaupt kein Spaß. Es ist überhaupt kein Prestigegewinn, es ist keine Steigerung des Wohlbefindens, wenn Dir nach und nach die Bilder hochkommen. Ich hatte damals sexuelle Phantasien gehabt, die ich nicht einordnen konnte und fand mich dabei ziemlich pervers. Festzustellen, daß das keine abnormen Phantasien sind, sondern Hinweise auf Erlebtes, das ist wirklich nicht witzig. Ich weiß nicht, wieso Frau Rutschky unterstellt, daß es irgendetwas ist, was ich oder eine andere Frau sich gerne ausdachte.

Zisser: Für die Beratungsstellen gilt das gleiche. Wenn zu uns jemand zur Beratung kommt und wir haben nach dem Gespräch den Eindruck, da hat jemand überreagiert, dann sind wir eigentlich eher froh. Mir fällt da ein ganz harmloses Beispiel ein, da war neulich eine Mutter bei uns und hat uns was erzählt von einem Bauarbeiter, der sehr freundlich zu ihrer kleinen Tochter war und sie im Trecker hat mitfahren lassen. Nachdem was sie erzählt hat, konnten wir nur zu ihr sagen, es ist gut, daß sie auf ihre kleine Tochter achten, aber es ist aller Wahrscheinlichkeit nach nichts passiert. Da bin ich doch nicht böse drumm, sondern im Gegenteil. Jeder Nicht-Mißbrauch ist uns doch lieber als einen Mißbrauch aufzudecken.

taz: Stichwort Scheidung. Rutschky behauptet, daß manche mit Hilfe von Verdächtigungen dem Vater das Besuchsrecht zu verweigern versuchen.

Zisser: Mir ist kein solcher Fall bekannt. Aber man kann sicher nicht ausschließen, daß sowas passiert. Teschaw: Mir ist da nur ein umgekehrtes Beispiel bekannt. Von einem Vater, der sein Kind mißbraucht hat, das es blutete, und der eindeutig überführt wurde, weil er nämlich den Mißbrauch auf Video aufgenommen hatte. Der Mann ist ins Gefängnis gekommen, die Frau hat sich von ihm scheiden lassen und jetzt, grad vor einem halben Jahr, hat ihm das Gericht wieder ein Besuchsrecht zugestanden, weil man ihm die Trennung zu seiner Tochter nicht zumuten könnte. Jetzt muß das Kind alle drei Wochen zu diesem Mann.

taz: Wie kommt es, daß Katharina Rutschkys Buch auch als „ganz erfrischend“ bezeichnet wird?

Zisser: Wenn man über viele Jahre an dieser Thematik gearbeitet hat, ist es natürlich nicht schlecht, auch mal wieder in eine gemeinsame Diskussion zu kommen. Aber das ist dann eine Diskussion unter Fachleuten und da ist so ein Buch vielleicht auch erfrischend. Aber so ein Buch wird ja auch von Leuten gelesen, die überhaupt nicht im Thema drin sind. Die fühlen sich in ihrer Meinung bestätigt, das sei alles nur aufgebauscht, das ist alles halb so schlimm und da wollen sich ein paar arbeitslose Sozialarbeiter ihre Pfründe sichern und eine Stelle aus dem Hut zaubern. Als wenn das so einfach wäre, das Geld für eine Beratungsstelle zu bekommen. Wir von Zornrot arbeiten hier seit vier Jahren ehrenamtlich und haben für das nächste Jahr eine erstmals feste Stelle zugesichert bekommen.

Teschaw: Katharina Rutschky hat einen Namen als kritische Pädagogin. Da sie Frauen, die sich erstmals mit dem Thema befassen, dazu auffordert, Signale für Mißbrauch zu übersehen, ist das gefährlich.

Das Gespräch führte Kaija Kutter