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Das lange Wiedersehen

■ Eric Rohmers „Wintermärchen“

Verabschiedungen sind schmerzvoll, wenn man den Verabschiedeten lange nicht sehen wird oder weil den Verabschiedenden plötzlich der Zweifel, vielleicht eine Ahnung packt, er könnte den anderen möglicherweise nie wiedersehen. Oder geschehen flüchtig, wie selbstverständlich mit einem „Auf Wiedersehen“ verbunden. Das Gefühl ist trügerisch: Alles und nichts kann geschehen. Im Fall von Félicie (Charlotte Véry) und Charles (Frédéric van den Driessche) ist die Umarmung heftig, aber getragen von der absoluten Gewißheit der Liebenden, sich wiederzusehen. Hastig kritzelt Félicie am Bahnhof ihre Adresse auf ein Stück Papier. Das Unglaubliche passiert: Félicie gibt Charles die falsche Adresse, verwechselt den Ortsnamen. Ihr unterläuft ein lapsus linguae, den sie erst neun Monate später beim Ausfüllen der Papiere für die Entbindungsstation registriert. Sie verliert Charles die nächsten fünf Jahre aus den Augen, dann begegnet sie ihm durch Zufall wieder. Ihr Gefühl hat sie doch nicht getrogen.

Mitten in Eric Rohmers jüngstem Film „Wintermärchen“ gibt es eine Schlüsselszene aus Shakespeares gleichnamigen Schauspiel. Ganz konventionelles Theater, das Félicie, die selten ins Theater geht, über die Maßen beeindruckt. Als sei ihre wunde Seele eine Folie für das Geschehen auf der Bühne. Es rührt sie zu Tränen, als die zur Statue gewordene Hermione wieder zum Leben erwacht und Mann und Tochter die Hand reicht. „Klar“, sagt Félicie hinterher im Auto zu ihrem Freund Loic, „nur der Glaube hat Hermione wieder lebendig gemacht.“ Auch sie glaubt ganz fest daran, daß sie Charles wiedersehen wird.

Charles ist also den ganzen Film über an- und abwesend zugleich. Zu Beginn wird er einmal kurz vorgeführt, man sieht Bilder einer Sommerromanze am Meer wie aus dem Bilderbuch beziehungsweise dem Fotoalbum. Ein Foto an der Wand im Zimmer von Félicies Tochter Elise bleibt als Erinnerung stehen. Etwas verändert sieht Charles schon aus, als sie ihm im Bus wiederbegegnet. Die Begegnung mit dem Märchenprinzen platzt mitten in Félicies Alltag, man findet keine großen Worte, sondern bleibt geschäftig und eben– einfach zusammen. So banal es war, daß Félicie Charles den falschen Ortsnamen gab, so banal ist ihr Wiedersehen: banal und doch selbstverständlich. Ein kleines Wunder im Alltag, das nur derjenige erlebt, der daran glaubt. Macht es was, daß dem Zuschauer Charles nicht mehr sympathisch ist als verflossener Liebhaber Félicies? Dieser kleine Stich ist typisch für Rohmer; der Märchenprinz ist es nur in den Augen derjenigen, die von ihm träumt. Für die anderen ist er ein Durchschnittstyp. Ein Durchschnittstyp wie alle Figuren in diesem Rohmer-Film, dem zweiten Teil seines Jahreszeiten- Zyklus, den er mit der „Frühlingserzählung“ begonnen hatte. Damals ging es um einen Mann und drei Frauen, im „Wintermärchen“ ist es umgekehrt.

Denn obwohl sich eigentlich alles nur um den einen Mann dreht, gibt es zwei andere Männer in Félicies Leben. Und zwischen beiden meint sie sich nun entscheiden zu müssen: dem Friseur Maxence (Michel Voletti), ein kräftiger Mann, wie es Félicie liebt, und der intellektuellere Loic (Hervé Furic), ein Bibliothekar, den Félicie eher wie einen Bruder liebt. Während sie Loic ihre instiktive Entscheidung erklärt, eine Art innerer Eingebung, Maxence zu verlassen und ihm nicht nach Nevers zu folgen, wo er einen Friseursalon eröffnen will, liefert ihr Loic den philosophischen Hintergrund: Platon und Pascal. Zwar reden die Figuren in diesem Rohmer-Film auch, aber nicht so endlos, nicht so haltlos wie in anderen Rohmer-Filmen. Zwar redet auch Félicie, obwohl sie keine Intellektuelle sein will, manchmal recht keck und kokett daher, aber dennoch ist sie eben eine Träumerin und ein Tatmensch zugleich.

Félicie ist Friseuse. Die Kamera begleitet sie auf dem Weg zur Arbeit, in der Metro, auf der Straße, das Wetter ist schmuddelig, Schneeregen fällt. Der Film zeigt ihren Alltag, der nichts Besonderes, Geheimnisvolles oder Schreckliches hat (und auch das Warten auf ihr „Wunder“, die Rückkehr Charles, soll sie ja nicht diesem Alltag entführen). Félicie lebt mit ihrer Tochter Elise, die aus der Begegnung mit Charles entstanden ist, bei ihrer Mutter, hat stets zur Untermiete gewohnt, weshalb sie unauffindbar geworden ist. Sie sitzt im Zug nach Nevers, beim ersten Besuch gefällt ihr die Stadt. Man sieht Félicie und Maxence eng umschlungen durch die hübsche Altstadt wandern, die schönen Außenansichten überlagern das häßliche Interieur der neuen Bleibe. Das zweite Mal flieht sie; der neue Salon ist schick, die Wohnungseinrichtung spießig.

Keiner der beiden Männer, weder Maxence noch vorher Loic, haben versucht, sie zurückzuhalten. Félicie kann das nicht verstehen. Aber sie versteht, daß es falsch ist, sich für Maxence oder Loic zu entscheiden. Sie liebt sie nicht genug oder gar nicht, sie will lieber von der Hoffnung auf Charles Rückkehr leben als mit einem der beiden. Als der Traummann endlich da ist, kommen Félicie erst später die Tränen, Tränen der Erleichterung und der Freude. Man sieht auch ihr Töchterchen auf einem Sofa sitzen, mit düsterer Miene und einer Träne im Auge. Warum sie denn weine, fragt die Großmutter. „Aus Freude“, sagt auch Elise. Darf man ihr das glauben? Sabine Seifert

„Conte d'hiver“ (Wintermärchen), Buch und Regie: Eric Rohmer. Kamera: Luc Pags. Mit Charlotte Vry, Frédéric van den Driessche, Michel Voletti, Hervé Furic, Ava Loraschi, Marie Rivire. Farbe, 114 Min. Frankreich 1992.

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