Klassentreffen – Die Untoten kehren zurück Von Kirsten Niemann

Im Grunde genommen habe ich die Schule immer gehaßt. Sentimentale Gefühle, die die Schulzeit im nachhinein als die „schönste Zeit des Lebens“ erscheinen lassen, sind mir fremd. Deshalb hätte es eigentlich keinen Grund gegeben, zum „Treffen des Abi- Jahrgangs '82“ zu erscheinen. Ich wäre auch garantiert nicht hingegangen, wenn mich meine alte Schulfreundin Kerstin E., geborene B., nicht in einem schwachen Moment erwischt hätte. Monatelange Abwehrversuche waren für die Katz, als ich aus einer Bierlaune heraus schließlich zustimmte, sie zu begleiten.

Nachdem ich ein halbes Jahr Zeit hatte, mich mental auf das Ereignis einzustellen, machten wir uns auf den Weg in die Provinz. Meine Unlust war nach wie vor enorm, dachte ich doch an das Halbfinale der Berliner Adler gegen die Düsseldorfer Panther, das ich nun verpassen würde (es war natürlich, wie ich mir später berichten ließ, total spannend, mit drei Verlängerungen!). Schließlich erreichten wir den Tatort in der Hoffnung, den Gesichtern zumindest noch einige Namen zuordnen zu können.

Es war unglaublich: Ungefähr zwei Drittel meiner ehemaligen 130 Mitschülerinnen und 15 Mitschüler waren erschienen und in sichtbar angeregte Unterhaltungen vertieft. Was aber hatten die vergangenen zehn Jahre angerichtet? Mein erster optischer Eindruck war, daß sich kaum einer grundlegend verändert hatte – abgesehen von Familienstand kennzeichnenden Fingerringen, drallen Hüften und anscheinend unvermeidlichen Dauerwellen. Mit letzteren schoß meine alte Klassenkameradin Ilka eindeutig den Vogel ab – sie sah aus, als wäre sie soeben in eine Steckdose geraten. Nach wenigen Sätzen stand fest, daß sie nach wie vor eine der Amüsantesten unter den Anwesenden war. Auf die an jenem Abend am häufigsten gestellte Frage nach Werdegang und Status hatte ich keine Lust, wahrheitsgemäß zu antworten. Also gab ich, nach einigen Gläsern Wein, bekannt: „Ich habe in Berlin einen Call-Girl-Ring organisiert – man kann ganz gut davon leben.“ „Ist ja interessant“, spöttelte mein Gegenüber, „ich habe vorhin mit Kerstin gesprochen. Die handelt wohl jetzt mit Organen?“

Je weiter der Abend voranschritt, desto mehr wurde gelogen. Lediglich Simone B., geborene S., zwei Kinder, antwortete entwaffnend: „Ich habe mich nicht verändert. Ich war schon immer eine Spießerin und bin es heute noch.“

Ich weiß nicht mehr genau, was noch geschah. Am Ende war ich auf jeden Fall Teil der Gruppe, die noch bis in die frühen Morgenstunden feierte. Treibende Kraft des Bierkampffinales war unser Englischlehrer Heinz-Walter H., geschieden, etliche Kinder, den wir nun freundschaftlich Heiwa nennen durften. Eigentlich war er selbst schuld daran, daß einige der Frauen in zunehmendem Maße persönlich wurden. Heiwa konnte sich im weiteren Verlauf nur dadurch gegen die exzessive Belagerung durch seine Ex-Schülerinnen zur Wehr setzen, indem er immer neue Runden spendierte, die natürlich dankend angenommen wurden. Keine Ahnung, wie die ganze Sache ausging. Gestorben ist jedenfalls keiner; aber betrunken waren alle.