Sanssouci: Vorschlag
■ Von Tacheles bis Quasimodo: Berlin Independence Days
Die Berlin Independence Days, kurz BID genannt, gehen in die fünfte Runde, sind mithin noch nicht einmal im schulpflichtigen Alter, und doch wird der Messe keine große Zukunft prophezeit. Das liegt an der Auflösung des Begriffs „Independent“, der seit einigen Jahren seine ökonomische Bedeutung verloren hat, weil Majors sich um kleinere Auflagen kümmern und manche Indie-Labels zu Konzernen wachsen. Musikalisch war die Diskrepanz nie sonderlich groß, nach dem Vordringen typischer Indie-Klänge an die Spitze der Charts ist sie nun endgültig verschwunden.
Um den Namen zu retten, verkündet Chef-Ideologe und BID- Macher Wolfgang Döbeling, independent seien die Wurzeln, seien Country, Blues, Billy und Reggae. Zufällig ist die historische Spurensuche das liebste Steckenpferd von Döbeling.
Die andere, unter ähnlichen Vorzeichen angetretene Musikmesse in Deutschland, die POPKOMM in Köln, hat die Zeichen der Zeit besser erkannt. Dort suchte man den Schulterschluß mit der Industrie, ließ sich mitfinanzieren, um mit einem im Vergleich zur BID ungleich höheren Budget ärmeren Labels die Möglichkeit zu geben, sich zu präsentieren und sich für den großen Ausverkauf zur Verfügung zu stellen. Zudem liegt der Termin der POPKOMM wenige Monate vor der BID. Die entscheidenden Kontakte werden in Köln geknüpft, und so schnellebig ist das Musikgeschäft nun doch nicht, daß auf der BID noch wichtige Geschäftsabschlüsse getätigt werden würden. So hat man schon länger den ehemaligen Ostblock entdeckt und hofft, den Standortvorteil nutzen zu können.
Die Konzerte sind eigentlich nur Dreingabe und gedacht als Werbeveranstaltungen für ein Fachpublikum. Deshalb heißen sie auch „Showcases“. 107 Acts werden sich in vier Tagen auf neun Bühnen präsentieren, dazu kommen dann noch zwei Tanz- Abende im Tränenpalast mit sechs DJs und einigen Live-Acts. Den Überblick kann man weder behalten noch bekommen, deshalb hier nur einige wenige Tips:
Gleich am Montag findet sich im Tacheles eine ungewöhnliche Zusammenstellung. Von den sechs Kapellen, die dort im Café und im Theatersaal auftreten werden, haben alle ein Akkordeon im Angebot. Die aus vier Nationalitäten zusammengesetzten Gran Teatro Amaro zerlegen das französische Chanson auf das gnadenloseste. Hart und klappernd, mit böser Stimme vorgetragen, keine Angst vor schiefen Tönen, so eine Art Chanson-Core. Jellyfish Kiss sind aus der Schweiz, aber lassen in ihren Texten jede eidgenössische Betulichkeit vermissen. Fast jeder Song gipfelt in einem Blutbad, in allerprimitivstem Englisch wird erzählt, wie eine Partygesellschaft im Magen eines Alligators endet, der im Swimming-Pool hauste, während das Schifferklavier ganz harmlos so tut, wie es heißt. Das deutsche Duo Nijinsky Style bevorzugt den romantischeren Umgang mit dem Instrument. Manchmal klingt es russisch, dann wieder schottisch, geplündert wird, was sich anbietet. Bei Marilyn's Army steht das Akkordeon weniger im Vordergrund, dafür verwundert die krude Verwendung von Kinderinstrumenten und Violinen, die zu einem postpunkenden Hoppelfolk verwurstet werden, der nicht nur wegen seiner teilweise deutschen Texte seinesgleichen sucht. Der Abend wird komplett mit den Poor Little Critters aus Berlin und Sexteto Canyengue aus Belgien.
Erstmals Veranstaltungsort der BID ist das Hard Rock Café. Am Montag sind dort Al Perry & The Cattle zu sehen, die zwar Country spielen, aber wenig Respekt vor den Vorbildern haben. In schonungsloser Punkattitüde zerfleischen sie die Klischees, haben bei aller Verzerrung aber immer wieder Zeit für anrührende Momente. Schön krank das. Independent muß nicht notgedrungen jung und hoffnungsvoll bedeuten. So spielt am Dienstag im Knaack Steve Wynn, der als Sänger der Los-Angeles-Gitarrencombo Dream Syndicate schon mehr als zehn Jahre Erfahrung sammelte, bevor er Solo-Pfade bestritt und zum Altherrenrocker mutierte. Vorher dafür die mögliche Zukunft des Genres: Passing Clouds aus Norwich spielen eine klein verschnüselte, spinnerte Gitarrenmusik, die erfolgreich die Mitte zwischen amerikanischer Sehnsucht und englischem Popwillen findet.
Was Döbeling unter „independent“ versteht, kann täglich im Quasimodo nachvollzogen worden. Dort spielen, wie schon in all den Jahren zuvor, meist alte Heroen oder solche, die noch die Heiligsprechung erwarten, weil sie sich um die Konservierung eines Genres besonders bemüht haben. Am Dienstag ist Texas- Abend. Alvin Crow spielt den Country & Western exakt so, wie er in Nashville schon vor einigen Dekaden zu Grabe getragen wurde. Daß Tote länger leben, beweisen auch High Noon, deren Rockabilly nur deshalb nicht als Original aus den Fünfzigern durchgeht, weil es auf durchsichtiges Vinyl gepreßt ist. Man muß es lieben. Dasselbe gilt für die Bad Livers, nur daß die Bluegrass spielen. Museumsabend für ausgestorbene Arten.
Von Texas nach Kanada. Die dortige Rockszene ist hier nahezu unbekannt. Rita Chiarelli zum Beispiel ist in ihrer Heimat ein Star geworden mit ihrem absolut radiotauglichen Rock, der weder auf satte Bläser noch auf die üblichen Klischees verzichtet. Demnächst in Ihrem Frühstücksradio. Nicht mehr der Jüngste ist Long John Baldry, die lebende Legende der kanadischen Bluesszene und bereits seit den Fünfzigern im Geschäft. Er spielte mit Alexis Corner, Jack Bruce, den halben Stones und Rod Stewart hat bei ihm gelernt. Ein wenig Indie gibt es dann selbst in Kanada: Surrender Dorothy spielen zwar auch nur Rock, sind aber jung, bluesbeeinflußt und hoffnungsfroh.
Wer keine Musik mehr hören mag, statt dessen das Geschäft kennenlernen will, aber nicht zum akkredidierten Fachpublikum gehört, darf am letzten Tag für 10 Mark an den Ständen von Labels und Vertrieben vorbeischlendern. Dort können dann auch „Panels“ genannte Diskussionen besucht werden: „Musikbusiness – Das unbekannte Unwesen“ und „Musikstadt Berlin – Illusion, Hoffnung, Perspektiven“. Thomas Winkler
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