: AUTOnom statt RADikal, heißt die Parole
■ Jede Gesellschaft hat die Verkehrsformen, die sie verdient/ Mit dem Stau schneller in die Revolution/ Unfälle steigern das Bruttosozialprodukt und den Aufschwung Ost
Wie? Sie sind staugeschädigt? Ihnen geht das Gebaue und Gedönse in und um die Hauptstadt total auf die Nerven? Sie wollen die Bäume des Tiergartens für einen 14spurigen Ausbau der Entlastungsstraße fallen sehen? Endlich durchs Brandenburger Tor und Unter den Linden rauf und runter rasen können? Die Avus über den Ku'damm verlängern? Tempo 100 rund um den Alexanderplatz einführen?
Recht haben Sie! Es muß endlich Schluß sein mit diesem Reformquatsch im Autoverkehr, all diesen vergeblichen Versuchen, diesen angeblich menschlicher, streßfreier oder umweltfreundlicher zu gestalten. Das ist er nicht und wird er nie werden. Alles Käse mit den Tempo-30-Zonen und der Parkraumbewirtschaftung und den Radwegen und der Straßensicherung. Je mehr Bau, desto Autos. Je mehr Straßen, desto Stau. Je mehr Auto, desto Gift.
Das ist es: Wir brauchen den totalen Stau. Chaos- und Stauforscher im Verein mit Karl Marx raten schon lange: Wir müssen da durch. Durch das Chaos in die höhere Ordnung. Nichts, aber auch gar nichts darf mehr gehen, damit wieder etwas geht. Wenn man nicht Umerziehungslager für Autofahrer mit Millionenkapazität bauen will, dann gibt es keinen anderen Weg als den Stau. Wir müssen die Entwicklung des AUTOnomen Individuums zur Spitze treiben, damit wir endlich zur RADikalen Umwälzung der gesellschaftlichen Verkehrsformen kommen. Will sagen, zur Rrrrevolution. Zur Diktatur des Rolletariats: Alle Macht den Rädern und Rollern.
Diejenigen, die sich in Bürgerinitiativen großtun, müssen wir zuvor endlich als das entlarven, was sie sind: feige Reformisten, die dem System kostenlose Überlebenshilfe leisten. Verzögerer, die dem Rad der Weltgeschichte fies von hinten in die Speichen respektive ans Ventil greifen. Ewiggestrige Sonnenblumenanbeter.
Ja wirklich, ganz im Ernst: Jede Gesellschaft hat die Verkehrsformen, die sie verdient. In einer Zeit, da alle mit Treten und Trampeln und Ellenbogen ihr ganz privates Glück zu machen versuchen, müssen alle Hindernisse auf dem Weg geradeaus oder nach oben eben weichen. In der alten Idylle des ummauerten West-Berlin konnte man sich Busspuren und Tempo-30-Schilder und Knutsch- und Knautschzonen noch leisten. Aber jetzt, im doppelt oder dreifach gesteigerten Tempo der Ereignisse, ist das vollkommen anachronistisch.
Nicht nur, weil der Aufschwung Ost ungehindert durch alle Straßen wehen soll, auf denen glückliche Bürger mit aufgekrempelten Ärmeln zur Arbeit streben. Sondern auch, weil sich das Bruttosozialprodukt, wenn es denn anders nicht gehen sollte, durch Unfälle, Arzteinsätze, Autoreparaturen, Klinikaufenthalte und Prothesenanpassungen ganz prächtig steigern läßt.
Zu den wenigen, die das in aller Klarheit erkannt haben, gehören der Berliner Verkehrssenator und der Bundesverkehrsminister. Heute beschimpft man sie noch, erst morgen wird man erkennen, daß sie die wahren Modernisierer waren, daß sie sich stets auf der Höhe der Zeit und darüber hinaus bewegt haben. Das wird schnell einsichtig, wenn wir uns erinnern: Früher starb man vor Langeweile auf der Transitstrecke zwischen West-Berlin und Westdeutschland. Heute, heissa, stirbt man im Crash. Wir müssen schließlich alle Opfer bringen für unsere Brüder und Schwestern, und jedes Autowrack ist ein Baustein mehr im großen Werke des Aufschwungs Ost. Ute Scheub
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