piwik no script img

„Die Welt ist schön, weil sie vielfältig ist“

■ Primo Levis Kolumnen im „Corriere della sera“ erscheinen erstmals auf Deutsch

Die „Dritte Seite“, das war in den großen italienischen Tageszeitungen traditionellerweise die Kulturseite. Sie war der Ort intellektueller Debatten um – nicht nur kulturelle – Fragen der Zeit. Inzwischen haben die meisten Zeitungen ihr Gesicht verändert, einzig der Corriere della sera hält noch an der altehrwürdigen Tradition fest, wenngleich auch die „Dritte Seite“ nicht selten auf Seite 6 oder noch weiter nach hinten rutscht und zumeist auch mehr als eine Seite ist.

„Die Dritte Seite“ heißt auch – nach dem Ort ihres ersten Erscheinens in der Turiner Tageszeitung La Stampa – eine Sammlung von Texten des italienischen Autors Primo Levi im Verlag Stroemfeld. Über Jahrzehnte hinweg veröffentlichte Levi, der sich erst sehr spät (1975) dazu entschloß, seinen Beruf als Chemieingenieur aufzugeben und sich voll und ganz der Schriftstellerei zu widmen, an dieser Stelle kleine Texte zu ganz disparaten Themen. Sie reichen von Gedanken über Lektüren über Reflexion von Problemen des Alltags, von Erwägungen über Sprache, und insbesondere auch die poetische Sprache, die Levi immer verschlossen blieb, wie er selber sagt, bis hin zu ganz nüchternen Überlegungen zu Politik und Geschichte. Insgesamt sind aus diesen Texten auf der terza pagina drei Bücher herausgekommen, „Lilith“, „L'altrui mestiere“ und eben „Die Dritte Seite“, welche die zeitlich gesehen jüngsten Texte umfaßt, aber dennoch in den Irrungen und Wirrungen der deutschen Edition von Primo Levis Arbeiten nun als erstes dieser drei Bücher erschienen ist.

Zwei Grundmotive durchziehen diese Texte ebenso wie auch fast alle anderen Arbeiten Levis. Und beide besitzen einen unmittelbaren biographischen Bezug. Zum einen ist es Primo Levis Erfahrung als Überlebender von Auschwitz, die immer wieder direkt oder indirekt in den Texten zum Vorschein kommt. So erkennt man unschwer in „Höhere Gewalt“ das Motiv der Gewalt als Zerstörung der Person wieder. M. stößt auf seinem Weg zu einer Bibliothek mit einem bärenstarken Matrosen zusammen. Es kommt zu einer tätlichen Auseinandersetzung. Sie endet mit der vollkommenen Überwältigung von M. „Das Duell“, so schließt der Text, „hatte seinen modellhaften Vorstellungen nicht entsprochen; es war ungleich, unredlich, schmutzig gewesen, und ihn hatte es beschmutzt. Modelle, selbst die von äußerster Gewalt, kennen noch Ritterlichkeit, das Leben nicht. (..) Er war sich darüber im klaren, daß er nie mehr der Mensch von vorher sein würde“ (176).

Oder zum Thema: kleine Wirkung, große Ursache. Primo Levi fällt hierzu der Grund seines Überlebens in Auschwitz ein. Er hatte von einem polnischen Häftlingssanitäter etwas Essen eingetauscht, das er sich mit seinem Freund Alberto teilte. Wahrscheinlich war das Essen zuvor von einem Scharlachinfizierten berührt worden. Levi, der als Kind kein Scharlach gehabt hatte wird krank, Alberto dagegen nicht. Genau in dieser Zeit wird Auschwitz vor der herannahenden Roten Armee aufgegeben. Alberto muß wie alle anderen gesunden Häftlinge auf den Todesmarsch nach Bergen-Belsen, den kaum einer überlebt. Levi dagegen wird einfach auf der Krankenstation zurückgelassen und von den Russen gerettet.

Das andere Grundmotiv ist die Achtung vor seinem Beruf, vor der Tätigkeit als Ingenieur und Techniker. Sie hat, das hat Levi nie vergessen, ihm das Leben gerettet. Schon allein deshalb wendet er den spezifischen Gesetzmäßigkeiten und Regeln seiner Tätigkeit große Aufmerksamkeit zu. Und die Vertrautheit – und Zustimmung – zur experimentellen, naturwissenschaftlichen Induktion schlägt sich nieder in seiner nüchternen, an Adjektiven und rhetorischen Überbauten armen Sprachen. Levi mag das „dunkle Schreiben“, wie er das an anderer Stelle genannt hat, nicht. Über seine Literatur könnte man durchaus Wittgensteins Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ stellen. In „Kafka übersetzen“ charakterisiert Levi sein eigenes Schreiben als dem Kafkas entgegengesetzt: Sein Schreiben soll „wie eine Filterpumpe wirken, die trübes Wasser ansaugt und geklärtes ausstößt“.

Wiewohl seiner eigenen Geschichte und seinen eigenen Erfahrungen immer eingedenk, läßt sich Primo Levi jedoch keineswegs auf den Autor von „Ist das ein Mensch?“ reduzieren. Gerade in diesen thematisch so breit gestreuten Texten zeigt er sich als ein Autor, der vollkommen und mit beiden Beinen in der, in seiner, Gegenwart steht. Den ersten Mondflug sieht er nicht als ein ökologisches Verbrechen, sondern als Ausfluß der menschlichen Kühnheit, die „dem gesunden Menschenverstand (entgegentritt), dem Standpunkt ,so hat man es immer gemacht', der Faulheit und der Müdigkeit in uns selbst und in der Welt“.

Es gibt eine Schlußfolgerung, die Levi aus seinem nur großem Glück geschuldeten Überleben in einer Realisation der großen Utopie vom besseren Menschen, nämlich Auschwitz, gezogen hat. Ideologien sind ihm zuwider, sein Mißtrauen gilt „dem Propheten, dem Verkünder, dem Seher“. Er geht pragmatisch auf die Dinge zu, immer bereit, ihnen ihren eigenen Wert zuzuerkennen. Gerade das aber macht seine Stärke aus, und ist wohl auch der Hauptgrund für seine enorme Beliebtheit beim italienischen Publikum aus allen Schichten: die Bereitschaft zur Gerechtigkeit – Menschen wie Sachen gegenüber. Diese Offenheit ist nicht nur eine persönliche Haltung, sondern bei Primo Levi auch die Quelle von wirklicher Literatur. Ulrich Hausmann

Primo Levi: „Die Dritte Seite“. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Basel, Frankfurt a. Main, 1992. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring und Michael Kohlenbach, 38DM.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen