: Wider die Schnürbrüste!
■ Lichtenberg-Ausstellung in Göttingen
„Man spricht viel von Aufklärung und wünscht mehr Licht. Mein Gott, was hilft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen?“
Die philosophischen und satirischen Notate, mit denen Lichtenberg seine „Sudelbücher“ füllte, haben den kleinen buckligen Gelehrten am ehesten bekanntgemacht. Weshalb die Befürchtung naheliegt, eine Ausstellung mit dem Titel „Wagnis der Aufklärung“ anläßlich seines 250. Geburtstages könne wenig anderes bieten als eine Präsentation von Texten, Handschriften und Bildnissen Lichtenbergs und bestenfalls noch eine Charakterisierung seiner Zeit. Die Sammlung von rund 700 Exponaten aber, die derzeit in der Paulinerkirche der Alten Universitätsbibliothek in Göttingen zu sehen ist, besteht mitnichten nur aus literarischen Dokumenten. Denn Georg Christoph Lichtenberg war nicht nur Schriftsteller, sondern im Hauptberuf Professor für Mathematik und Experimentalphysik. Als solcher lehrte und wirkte er von 1770 bis zu seinem Tode im Jahre 1799 in Göttingen. Er beschäftigte sich mit angewandter Mathematik und Wahrscheinlichkeitsrechnung, mit Elektrizität und Magnetismus, mit Blitzen, mit dem Mond und dessen Kratern.
Lichtenberg war der Universalgelehrte des 18.Jahrhunderts: nichts, was ihn nicht interessierte, kaum ein Fachgebiet, auf dem er nicht mit spitzer Feder gegen die abstrusen Theorien seiner Zeit anschrieb, kein Gedanke, den er nicht auf seinen praktischen Gehalt hin weiterverfolgte. Von all dem zeugen neben Lichtenbergs Schriften auch naturwissenschaftliche Instrumente aus seinem Besitz sowie eine Fülle von Gebrauchsgegenständen aus seinen verschiedenen Interessens- und Arbeitsgebieten.
Die Göttinger Georg-August- Universität, die die im Sommer bereits in Darmstadt gezeigte Ausstellung veranstaltet, hat diese um einige Stücke aus ihrem Besitz bereichert. Hinzugekommen ist neben physikalischen Instrumenten aus Lichtenbergs privater Sammlung vor allem das Original seines nächtlichen Notizbuchs „Noctes“, das jüngst vom Göttinger Wallstein-Verlag als Faksimiledruck veröffentlicht wurde.
Dies alles wird in farblich und atmosphärisch unterschiedlich gestalteten Abteilungen präsentiert: im Zentrum der gotischen Paulinerkirche Lichtenbergs geistes- und naturwissenschaftliches „Innenleben“, an den Rändern die äußeren Stationen seines Lebens. Neben London (mit einem begehbaren Panorama, das die Metropole des 18.Jahrhunderts vom Dach eines Fabrikgebäudes betrachtet zeigt) steht Lichtenbergs (unerreichtes) Traumziel Italien, neben dem Thema „Französische Revolution“, der Lichtenberg skeptisch gegenüberstand, die von ihm neugierig verfolgte Entdeckung der Südsee, neben dem Modell eines – gleich dem Lichtenbergs – verkrüppelten Brustkorbs findet sich ein Korsett, mit dem im 18.Jahrhundert der weibliche Körper in Form gepreßt wurde. „Man schreibt so fürchterlich schön wider die Schnürbrüste – für den Leib– Ach! die für den Geist sind erst des Henckers!“, schrieb Lichtenberg und befand: „Schnürbrüste überall!“
Feder und „Dintenfaß“, analytischer Verstand und satirische Ausdruckskraft waren die Waffen, mit denen Lichtenberg gegen die Unwissenheit und geistige Beschränktheit seiner Zeit kämpfte, um „mehr Licht“, um bewußte Wahrnehmung bemüht. Dies alles, die Person Lichtenbergs, seinen Kampf für die Aufklärung, seine Zeit wie seine Gegner macht die Göttinger Ausstellung lebendig. Axel Ruckaberle
Die Ausstellung „Lichtenberg – Wagnis der Aufklärung“ in der Paulinerkirche der Alten Universitätsbibliothek Göttingen, Papendiek 14, ist bis zum 3. Januar 1993 zu sehen. Der (sehr umfangreiche und informative) Ausstellungskatalog ist im Hanser Verlag, München, erschienen und kostet 48DM.
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