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A b c — Oh weh

■ 150.000 AnalphabetInnen in Bremen / „Immer hat man Angst, daß es herauskommt“ / Ein Besuch in einem Volkshochschul-Kurs

3 Männer

1 Zeitung

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Unter Lesenden „immer Angst, erwischt zu werden“ — wetten? F.: K.H.

„Wer lesen und schreiben kann, kann sich unsere Situation überhaupt nicht vorstellen“, sagt Thomas (Name geändert), ein junger Elektrotechniker. Er ist einer der zwölf TeilnehmerInnen aus einem Alphabetisierungskurs an der Bremer Volkshochschule. „Man wagt nicht zum Arzt zu gehen, weil man dort diese Fragebogen ausfüllen muß. Im Restaurant bestellt man immer Schnitzel, weil, das haben sie meistens. Oder Partys, auf denen ein Gesellschaftsspiel mit Schreiben gespielt wird. Dann tue ich betrunken, oder ich muß ganz schnell weg. Die anderen durften ja nicht wissen, daß ich nicht lesen und schreiben konnte, die hätten mich einfach für blöd erklärt. Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen, hab immer Plattdeutsch gesprochen. Meine Eltern konnten auch nicht gut schreiben, und niemand hat sich um mein Problem gekümmert. Die nervliche Belastung ist immer angespannt, der ganze Körper. Immer hat man Angst, daß es herauskommt.“

Alle anderen nicken. Scham und Angst davor, „erwischt“ zu werden, kennen alle. Meistens wissen nur die engsten Verwandten von ihrer Schwäche, fast alle haben nur mit Hilfe von ihren Ehepartnern oder Geschwistern den Mut gefunden, sich zu einem Alphabetisierungskurs anzumelden. Und dieser Anmeldung ist obendrein eine lange Suche nach solchen Kursen vorausgegangen, denn Arbeitsamt, soziale Dienste, Behörden, LehrerInnen, sie alle sind erschreckend uninformiert über das Lernangebot an den Volkshochschulen.

Ein alter Mann, Lagerarbeiter: „Früher waren Behördengänge schrecklich. Ich hab denen gesagt: ich kann nicht schreiben. Aber die haben das nicht geglaubt, haben gesagt: keine Zeit. Jetzt habe ich keine Furcht mehr, seit ich dreieinhalb Jahre hier in dem Kurs bin. Wenn ich jetzt Fehler mache, dann ist eben ein Fehler drin. Ich bin sehr gern hier.“ Alle schwärmen von der angstfreien Atmosphäre und der „Kameradschaft“ untereinander. Die Hausfrau mit fünf Kindern und eine ihrer Töchter. Der junge Mann, der nach der Sonderschule seine geringen Schriftkenntnisse nicht wieder verlernen will. Die stille Verkäuferin, der Bäcker, der Junge aus der betreuten Werkstatt für Behinderte.

Erst seit 1978 gibt es Lernprogramme für Menschen die nicht oder kaum lesen und schreiben können. Das sind ungefähr ein bis drei Prozent der deutschen Erwachsenen, in Bremen also um die 150.000. Das Lernprogramm, erarbeitet von der Sachgebietsleiterin Monika Wagener-Drecoll, ist ganz auf die erwachsenen „SchülerInnen“ ausgerichtet. Kinderfibeln wären nicht nur den Bedürfnissen der lebenserfahrenen Menschen völlig unangemessen, kindliche Texte würden auch deshalb demütigend sein, weil sie unvermeidlich an den traumatischen ersten Lese- und Schreibunterricht in der Schule erinnern. Deshalb schreiben sich die Volkshochschulschüler ihre Lerntexte selbst. Jedes Jahr geben die Fortgeschrittenen Themenhefte heraus, die in einfacher Sprache ihre eigenen Erfahrungen aufgreifen oder Sachgebiete erarbeiten, wie z.B. ein Heft über die Weserverschmutzung. Diese Texte tauschen Volkshochschulen in ganz Deutschland untereinander aus. Sie werden zum Teil als Material für Arbeitshefte des Klett-Schulbuchverlages verwendet.

„Der konventionelle Anfangsunterricht in der Grundschule ist darauf eingerichtet, daß die Kinder ab der 2. Klasse lesen können. Für Nachzügler ist weder Zeit noch Personal da. Aus dieser Unterrichtsstruktur, zusammen mit einem schwierigen Elternhaus, rühren die meisten Lese- und damit auch Schreibschwächen her“, so Monika Wagener-Drecoll. Und Martin lacht, als er berichtet, daß er seinen Sonderschulabschluß ohne eine einzige „Fünf“ gemacht hat, obwohl er nicht schreiben konnte. „Die haben mich einfach so durchgeschleust. Als doof galten wir ja eh.“

Mit drei Jahren Lernzeit, bei sechs Wochenstunden, muß rechnen, wer in der Lese- und Schreibwelt teilhaben will. Die Kurse sind kostenlos. Die Anmeldung erfolgt direkt bei den Lehrerinnen. Diskretion ist gesichert. Telefon: 496-3675

Cornelia Kurth

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