: Was sie wollten, was sie wurden
Der vor einem Jahr von der EG erlassene Boykott deutscher Exportgüter scheint jetzt doch zu einer politischen Kursänderung an der Spree geführt zu haben. Wie heute offiziell vom Presseamt bestätigt wurde, soll demnächst ein „publizistischer Feldzug“ beginnen, der Deutschland den Weg zurück ins europäische Haus ebnen und zum Abbau der von der EG errichteten Schutzmauer beitragen soll. Die vor zwei Jahren errichtete Mauer war die erste EG- Maßnahme gegen die Welle der Ausländerfeindlichkeit in Deutschland. Seit der weltweiten wirtschaftlichen Ächtung Deutschlands ist der Lebensstandard auf das Niveau Portugals zurückgegangen. Dies bezeichnete der Pontifex maximus Alfons Braunhuber als „unerträglichen Zustand, den es abzuschaffen gilt“.
Die vielversprechende Kampagne soll in deutlicher Weise die Welt von der aufgeklärten und kosmopolitischen Haltung der Deutschen überzeugen. Zu diesem Zweck sollen ausländische Künstler nach Deutschland eingeflogen werden, um mit Einheimischen farbenfrohe Straßenfeste zu inszenieren. Diese fröhlichen Festivitäten sollen der tiefempfundenen Freundschaft zwischen Deutschen und Ausländern Ausdruck verleihen und stellen gleichzeitig den Auftakt zur deutschen Export-Messe 2000 dar. Ab morgen verteilt das Propagandaministerium kostenlose Autoaufkleber mit den folgenden Sprüchen: „Haben Sie heute schon einen Ausländer gelobt?“, „Wirtschaftsflüchtlinge, find' ich gut!“; „Mein Asyl, Dein Asyl, Unser Asyl“; und „Leeres Boot, Nein Danke“.
Seit neuestem dürfen auch wieder Straßen nach Ausländern benannt werden – hierzu vorgesehen sind in der Hauptstadt unter anderem die Mozartallee, der Quislingplatz und die – seiner ethnischen Herkunft wegen – nicht unumstrittene Saddamzeile. Ferner soll das Anzünden von Wohnblocks, Altenheimen und Krankenhäusern nicht mehr als Volkssport staatlich gefördert werden. Es sollen die Friedhof-Freizeit-Aktivitäten, wie feierliche Veranstaltungen auf SS-Friedhöfen und das Schänden von nichtdeutschen Grabsteinen wieder unter Strafe gestellt werden. Das Wirtschaftsministerium bestätigte gestern Gerüchte großzügiger Entwicklungshilfe für die Dritte Welt. 30 Tonnen Räuchermännchen aus dem Erzgebirge sowie 50.000 BMWs aus den stillgelegten Produktionsstätten befinden sich auf dem Weg nach Somalia. Politiker und Führungskräfte der Industrie äußerten sich zuversichtlich über die neuen Maßnahmen. „Nach der mißglückten Olympia-Bewerbung, dem Bau der Mauer und dem internationalen Wirtschaftsboykott gegen unser Land ist es höchste Zeit, gegen die Umtriebe der Linksextremisten mit aller Schärfe vorzugehen“, sagte Braunhuber und kündigte die Abschaffung der aus einem Paragraphen bestehenden Verfassung an. Neil Spence
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