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Die späten Früchte des Zorns

John Steinbeck machte Sallisaw, Oklahoma, zu einem Ort der Weltliteratur. Die Einwohner haben es ihm bis heute nicht verziehen.  ■ Von Reed Stillwater

Der Farmer, abgetragener Overall, zerrissenes Hemd, schmutziger brauner Hut, kommt dem Sheriff mit der Schrotflinte entgegen. Die beiden sind aus dem gleichen Dorf, kennen sich seit der Kindheit. Der Farmer weiß schon, was der Sheriff will: Er wird seinen alten Schulkameraden auffordern, sein Land und seine Farm zu verlassen. Dies ist nicht der erste Farmer, zu dem er kommt. Das Land ist überschuldet, neue Kredite gibt es nicht. Das Land gehört jetzt der Bank, die es an einen Agrarkonzern verkauft hat. Doch die ökonomischen Hintergründe interessieren an diesem Nachmittag niemanden. Es geht um die Konfrontation. Der Sheriff schwenkt ein Stück Papier: „Ich gebe dir 24 Stunden Zeit.“ „Dieses Land hat mein Vater erworben, an seiner Seite habe ich es mit eigenen Händen urbar gemacht. Ich bin hier aufgewachsen, und meine Kinder werden hier auch aufwachsen. Wenn du näher kommst, schieße ich.“ Schrotflinten sind entsetzlich laut, Revolver machen dagegen ein fast lächerlich dünnes „Piff“. Der Sheriff versteht mit der Waffe umzugehen, darum ist er ja Sheriff, der Farmer nicht, darum liegt er jetzt am Boden. „Ich gebe dir 23 Stunden Zeit, deinen Mann zu begraben und dieses Land zu verlassen“, sagt der Sheriff zur Frau, die schreiend über ihrem Mann zusammengebrochen ist. Applaus.

Die von den „Plainsmen Gunfighters“ clownesk nachgestellte Szene stammt aus John Steinbecks großem Buch „Grapes of Wrath“, „Die Früchte des Zorns“. Den meisten Zuschauern in Sallisaw ist sie aus dem gleichnamigen Film mit Henry Fonda in der Hauptrolle bekannt, der am Vorabend im Sequoyah Kino gelaufen ist. Den älteren Menschen auch aus der Wirklichkeit. Denn Sallisaw, Oklahoma, ist ein realer Ort.

Sallisaw, das ist die Heimatstadt von Tom und Ma Joad, die Protagonisten in Steinbecks Roman über den Treck der „Okies“ nach Kalifornien. Daß John Steinbeck die Familie Joad und den Beginn ihrer tragischen Geschichte ausgerechnet nach Sallisaw verlegt hat, daß er überhaupt das Schicksal der „Okies“, jener zweihunderttausend Kleinfarmer, die damals in den dreißiger Jahren ihr Land in Oklahoma aufgeben und sich als verachtete Wanderarbeiter in Kalifornien verdingen mußten, weltweit bekannt gemacht hat, das haben ihm die Bewohner Sallisaws und Oklahomas bis heute nicht verziehen. Immerhin galt Steinbeck ja als Sozialist, und er schildert auf ergreifende Weise das Versagen Amerikas in einer solchen Elendskrise. Dennoch versuchen die Bewohner Sallisaws heute, Kapital aus ihrem ungeliebten literarischen Ruhm zu schlagen: Come and see the real Sallisaw, steht auf den Flugblättern, die zum alljährlich im Oktober stattfindenden „Früchte-des-Zorns-Festival“ einladen: „Sallisaw, wie es wirklich ist“. Und der Leitartikel in der Sequoyah County Times führt dazu aus, daß das Image, das Steinbeck dem Städtchen gegeben hat, ihm bis heute anhängt – und daß es endlich Zeit ist, gegen diese Verleumdung anzugehen.

In Kalifornien wurden die Okies damals schlecht behandelt, sehr schlecht. „Okie“ war ein Schimpfwort. „Neger und Okies nur auf den Rangplätzen“ hieß es in den Kinos. „Es gibt noch Verbitterung“, bestätigt Dick Mayo, der Herausgeber der Sequoyah Times. „Als wir letztes Jahr den Film ,Früchte des Zorns‘ hier vorführten und diese berühmte Szene kommt, wo sich die Kalifornier mit Knüppeln zusammenrotten, um die hungernden und arbeitssuchenden Wanderarbeiter am Weiterfahren zu hindern: ,Wir wollen in diesem County bis zur nächsten Erntesaison keine verdammten Okies sehen‘, da ging ein Raunen durch den Saal. Die Älteren hat das getroffen. Die Jüngeren haben gelacht.“

Die legendäre „Route 66“ führt nicht an Sallisaw vorbei. Man muß ein ganzes Stück nordwärts fahren, um bei Tulsa auf die berühmte Straße zu stoßen. Dabei fährt man durch eine Seenlandschaft, ein Produkt der amerikanischen Leidenschaft, möglichst jeden Fluß aufzustauen. Oklahoma brüstet sich heute damit, mehr Kilometer Strand zu haben als Pazifik und Atlantik zusammengenommen. Diese Seenplatte ist die Handschrift Bob Kerrs, jenes eigenwilligen Senators aus Oklahoma, der dafür berühmt wurde, im Senat auch mal mit Fausthieben zu argumentieren. Im Polit-Jargon nennt man solche Projekte pork barrils, Fässer voll Schweinefleisch: Politiker sichern sich ihre Wiederwahl dadurch, daß sie ihrem Heimatstaat große Projekte beschaffen, die Geld und Arbeitsplätze bringen – ob diese Projekte Sinn haben oder nicht. Wer wollte sich in Washington in den 30er und 40er Jahren schon gegen Projekte zur Bewässerung Oklahomas wenden, wo doch Oklahoma ein Synonym für Dürre war? Doch ist durch Bob Kerrs Stauseen in Oklahoma mehr landwirtschaftliche Nutzfläche verlorengegangen als durch den dust-bowl, jene große Dürre, die die Gegend zur „Staubschüssel“ der USA machte.

Auf dem Weg zur Route 66 fährt man auch an Moskogee vorbei, das nicht nur um des Reimes willen in Merl Haggards populärem Song existiert: „I'm proud to be an Okie from Moskogee“. Proud, stolz, waren sie auch damals, aber man hat ihren Stolz gebrochen und sie wie Dreck behandelt. Die Okies waren die Ossis Amerikas, sie waren Flüchtlinge im eigenen Lande, verachtet und verhaßt, ausgestoßen und herumgestoßen. Sie waren die ersten Ökoflüchtlinge dieses Jahrhunderts, heimgesucht von der Verwüstung der Great Plains durch anhaltende Dürre und Winde. Ihr Exodus bildete eine nicht abreißende Karawane zerbeulter, dampfender, spotzender Schrottautos, überladen mit Matratzen, Öfen, rußgeschwärztem Kochgeschirr und den vielköpfigen Familien. Aus vielen Nebenflüssen mündete ihr Strom auf die Route 66.

Wer heute durch Oklahoma fährt, stößt allenthalben auf die Spuren des dust-bowl und des damaligen Exodus. Die Äcker sind in eigenartigen Mustern gepflügt, die aus der Luft wie berückend schöne Ornamente aussehen. Sie sind das Ergebnis einer neuen Pflugtechnik, die den Boden besser vor Ausblasung schützen soll. Vor allem aber wirkt Oklahoma menschenleer. Oklahoma hatte seit der Dürre und der Depression eine ständige Abwanderung zu verzeichnen. Die Kleinstädte, oft Schmuckstücke amerikanischer Backsteinarchitektur, sind leer, die Geschäfte oft mit Brettern vernagelt. Das „Sallisaw Früchte-des- Zorns-Festival“ ist einer der Versuche, diese kleinen Städte wieder mit Leben zu füllen.

Auf dem Festival gibt es außer den Sketchen der Plainsmen Gunfighters noch Verkaufsbuden für Chili und Würste, für indianisches Kunsthandwerk und Maiskolben. Der Chor der Schule singt patriotische Lieder. Ich fasse mir ein Herz, und frage eine Gruppe älterer Herren, ob sie sich an die Zeit, um die es hier geht, erinnern. Sie wollen erst nicht antworten. Ja, sie haben damals schon hier gelebt. Ob sie den Film gestern abend gesehen haben? Nein, wollen sie auch nicht! Wie es denn damals hier war? Oh, wir lebten wie eine große Familie, wer nichts hatte, bekam von dem, der noch hatte. Ob sie den Roman von Steinbeck kennen. Ja. Ob der denn die Verhältnisse richtig wiedergibt? Kopfschütteln. Wir hätten so nie geredet, vor allem nicht vor unseren Frauen. Im Roman werde doch eine sehr drastische Sprache gesprochen. Ob sie also keine „Okies“ gewesen seien? Nein. Sie haben also immer hier gewohnt? Nein, wir sind nach Kalifornien gegangen, Ende der 30er Jahre. 1940, fügt einer schnell hinzu, als wollte er betonen, daß das nach der Zeit war, in der Steinbecks Roman handelt. Wir gingen, weil wir uns verbessern wollten, sagt ein anderer. Wir haben dort in der Industrie gearbeitet, im Flugzeug- und Schiffsbau.

Ich erinnere mich, daß sich das Problem der „Okies“ tatsächlich durch den Zweiten Weltkrieg löste. Die ehemaligen Farmer fanden Arbeit in der Rüstungsindustrie. Und jetzt sind sie wieder hier, frage ich? Ja, hier ist es schöner als in Kalifornien. In Kalifornien ist der Lebensrhythmus zu schnell, dort gibt es zu viel Kriminalität, dort kann man seine Kinder nicht aufwachsen lassen.

Am Vorabend waren zu der Vorführung des Steinbeck-Films nur wenige geblieben. Der Verkleidungswettbewerb aber, der zuvor im gleichen Raum stattfand, war gut besucht. Sich so anziehen, wie die „Okies“ damals aussahen, lautete das Motto. Sandy Bandimer gewann den mit 400 Dollar dotierten ersten Preis für ihre Darstellung der schwangeren Rose of Sharon. Rose, die Schwester Toms, bringt, nachdem die Familie Joad in Kalifornien alles verloren hat, in einem abgestellten Eisenbahnwagen während eines Unwetters ihr Kind tot zur Welt. In der umstrittenen letzten Szene des Romans gibt Rose einem sterbenden Mann ihre Brust – eine Szene, die Hollywood natürlich nicht filmisch umgesetzt hat. Sandy Bandimer, Mutter von drei Kindern, weiß Gang und Haltung einer Schwangeren darzustellen: das Hohlkreuz, die müden Augen, die schlaffen Gesichtszüge. Man sieht ihre Schönheit, und man sieht zugleich die Spuren, die die Irrfahrt und Verzweiflung der „Okies“ im Gesicht und im Körper der jungen Frau hinterlassen haben. Sie ist schöner und überzeugender als Doris Johnson, die im Film die Rolle der Rose spielt. Sandy muß eine ganze Weile auf der Bühne stehen, denn es soll nicht nur ihre Verkleidung, sondern ihre ganze Haltung bewertet werden. Es wird viel getuschelt, und Sandy lächelt nervös. Und dann, für nicht viel mehr als eine Sekunde, wird es still im Saal, und auch Sandy lächelt nicht mehr. Für einen Augenblick wird die herzzerreißende Wirklichkeit von vor fast sechzig Jahren lebendig.

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