: Eine Zeitschrift für verhaftetes Denken
■ Banu Radulescu, Chefredakteur von „Memoria“, wird weiter attackiert
Als Banu Radulescu ein Jahr nach der „Revolution“ ins Haus der Schriftstellergewerkschaft gehumpelt kam und alle Zeichen eines frontalen Zusammenstoßes mit einem Bulldozer trug, war keiner weiter schockiert. Nicht einmal ein bißchen. Denn erstens reichte das, was man ihm getan hatte – wenn es auch eine gründliche Abreibung gewesen war – nicht an den neuen, von den durch Bukarest ziehenden Bergleuten gesetzten Maßstab heran, die sechs Monate zuvor eine kranke Regierung mit sadistischen Attacken auf die Bevölkerung unterstützt hatten. Und zweitens hatten wir alle, einschließlich Banu Radulescu selbst, es lange kommen sehen. Und Banu Radulescu hatte auch schon Schlimmeres erlebt: Auf der Höhe des Stalinismus hatte er sechs Jahre im Gefängnis gesessen. Seine Haft war weniger eine Bestrafung als eine Vorbeugung gewesen. Er hatte keinerlei definitive Straftaten begangen, aber die damals gerade knospende Securitate beschloß, ihn wegen der schlecht beleumundeten Gesellschaft, mit der er sich umgab, einzusperren. Als Medizinstudent kurz vor dem letzten Examen arbeitete er als Assistent für einen Arzt zweifelhafter Herkunft: Dessen Bruder nämlich war einmal Minister einer liberalen Regierung gewesen. Nicht, daß sich dieser Arzt jemals auch nur im entferntesten politisch engagiert hätte. Aber die Securitate ging auf Nummer Sicher und verhaftete ihn.
Gruselige Gefängniskarriere
Im Unterschied zu seinem unglücklichen Arbeitgeber gab man Banu Radulescu die faire Chance, einer Haftstrafe als „Volksfeind“ zu entkommen: Er brauchte vor dem kommunistischen Gericht bloß zu bezeugen, daß dieser Arzt in der Tat „antikommunistischen Aktivitäten“ nachging. Erst 24 Jahre jung, beschloß er jedoch, seinen Pfadfindertugenden treu zu bleiben und nahm die Routinephrase von der „Wahrheit, nichts als die Wahrheit“ wörtlich. So stand er also da und sprach leidenschaftlich für den unschuldigen Arzt.
Den Anklägern paßte das gar nicht, und sie beschlossen, einen Fall auszugraben, in dem er selbst in seinen Pfadfinderjahren ein Epigramm geschrieben hatte, das die lächerlichen Führer der lächerlichen KP verspottete. Wie dieses Schriftstück hatte überleben können, war ihr eigenes Geheimnis – zumal es damals nur privat unter „Freunden“ zirkuliert war. Jetzt brauchte das Gericht nur noch zwei und zwei zusammenzuzählen: Jemand, der selbst die Partei verleumdete, würde natürlich auch zugunsten eines ihm gleichgesinnten „Volksfeindes“ aussagen. Und so begann Radulescu seine gruselige Gefängniskarriere in der gruseligsten aller Zeiten.
Er war zu zehn Jahren Haft verurteilt worden – auf zehn kam man damals, wenn man zwei und zwei zusammenzählte –, aber sechs Jahre später fühlte sich die Kommunistische Partei stark genug, noch lebende politische Gefangene freizulassen – und Banu Radulescu war dabei. Dennoch hatte er bis 1954 in fast allen politischen Gefängnissen Rumäniens gesessen, ein Jahr in jedem. Das alles wegen eines Epigramms, das er als Schuljunge geschrieben hatte – und natürlich, weil er dann so wenig Sportsmann gewesen war, das angesagte Spiel nicht mitzuspielen.
Nach seiner Freilassung fragte Radulescu bei seiner Fakultät an, was denn nun wäre mit dem verzögerten Examen – aber inzwischen hatte sich alles geändert. Sein Professor, der ihn auf eine Assistenzstelle nach der Graduierung vorbereitet hatte, lehrte nicht mehr: Er war wegen Teilnahme an einer royalistischen Studentendemonstration aus dem Establishment entfernt worden. Auch der Lehrstoff war nicht unwesentlich geändert worden: Ein Kursus in Marxismus- Leninismus war essentiell für alle hoffnungsvollen Ärzte. Wie konnte man auch heilen oder diagnostizieren ohne ein Minimum an Wissen über den Klassenkampf und seine Prinzipien? Aber wir wollen fair bleiben gegenüber dem jungen egalitären Regime und an dieser Stelle zugeben, daß Radulescu in dem von ihm gewählten Feld der Medizin weiter tätig bleiben konnte, wenn auch nur als Krankenpfleger.
Im Gefängnis war die Lust am Schreiben nicht vergangen, und so schrieb er weiter, allerdings noch von jedem Kommissar an seinen früheren Fehltritt erinnert, an den er sich um Veröffentlichung zu wenden wagte. In allen Verlagen, die mit der Produktion einer marxistischen Version von Literatur befaßt waren, ging ihm sein Ruf voraus. Pornographie ist ein mildes Übel verglichen mit den damals produzierten Exempeln „engagierter Literatur“, die die Tugend patriotischer Erotik priesen.
Literarische Foltererinnerungen
Dennoch gelang es Radulescu 1954, eine seiner Kurzgeschichten zu veröffentlichen und dafür sogar einen Preis zu gewinnen. Er hatte sie unter dem Namen seines Schwagers produziert. 1958 unternahm er erneut den Versuch, eine Sammlung seiner Kurzgeschichten an die Öffentlichkeit zu bringen. Das verhalf ihm zu der Ehre, vom Vorsitzenden der Schriftstellergewerkschaft persönlich aus dem Gebäude der Gewerkschaft hinausgeworfen zu werden. Dieser Vorsitzende, sollte man nebenbei erwähnen, war im großen und ganzen kein so schlechter Dichter, aber nicht deshalb nahm er diese Stellung ein. Vielmehr hatte er etwas erfunden, etwas ziemlich Mythisches zudem: eine brandneue Poetologie des Kommunismus, in der Apfelbäumchen im Besitz der Mitgliedskarte der Partei waren (eben wahre Bäume der Erkenntnis) und moderne Zentauren – halb Mensch, halb Traktor – auf großen Feldern kollektiver Bauernhöfe fröhlich ihre Furchen zogen.
Und dennoch: Zehn Jahre später – was sind zehn Jahre für einen, der sechs im Gefängnis gesessen hat? – erfüllte sich Radulescus Traum: Er wurde Mitglied der rumänischen Schriftstellergewerkschaft. Inzwischen nämlich war sein Schreiben, in dem Versuch, das Herz des Zensors zu erweichen, aus dem Stoff gewonnen, aus dem schlechte Träume sind: Erinnerungen seiner kommunistischen Haft, verkleidet als Geschichten ruhmreich kommunistischer Helden, die von Nazis gefoltert werden.
Einer dieser Geschichten gebührt aus mancherlei Gründen besondere Aufmerksamkeit: Erstens demonstriert sie die Verstellungstechnik des Autors, zweitens wurde sie in einer Jubiläumsanthologie zu Ehren der Kommunistischen Partei veröffentlicht, und drittens brachte sie Radulescu wiederum in Schwierigkeiten mit der Securitate. Die Geschichte heißt „Der Brunnen“; darin wird mit fachmännischer Genauigkeit das jeweilige Maß an Schmerz per Foltereinheit beschrieben, wie es ein Opfer der Nazis erlebt. In Wirklichkeit beschreibt er eine der vielen „Sitzungen“, wie er sie selbst in den Händen kommunistischer Henkersknechte oft erlebt hat. Radulescu hat einmal erklärt, er hasse die Nazis ebenso wie die Kommunisten, und seiner Meinung nach stünden sie sich, wenn es um die Durchsetzung ihrer Ideologie gehe, in nichts nach. Kommunisten durch Nazis zu ersetzen, war daher für ihn kein besonders schwerwiegender Kompromiß.
Um auf die Geschichte zurückzukommen: Ihr Held wird gefoltert, weil er in seinem Garten einen Brunnen gegraben hat und bei den Arbeiten unglücklicherweise eine geheime Telefonleitung zwischen dem lokalen Nazihauptquartier und Berlin durchstochen hat, und das während eines absolut lebenswichtigen Gesprächs. Nachdem man ihn furchtbar zusammengeschlagen hat, wird irgendwie doch klar, daß ihn keine wirkliche Schuld trifft, und er wird entlassen. Das Opfer geht – vielmehr kriecht– nach Hause und beginnt sofort wieder mit den Ausschachtungsarbeiten für den Brunnen.
Gedächtnisstütze einer lobotomisierten Nation
Bildlich gesprochen, hat Radulescu genau das auch getan, als er humpelnd und zerschlagen sofort wieder im Haus der Schriftstellergewerkschaft ankam, um die Arbeit, für die er zusammengeschlagen wurde, gleich wieder aufzunehmen. Diese Arbeit ist die Chefredaktion von Memoria, einer Zeitschrift, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Geschichte der politischen Verhaftungen und Verfolgungen im kommunistischen Rumänien zu rekonstruieren. Der Untertitel von Memoria – „Erinnerung“ – ist daher auch: „Eine Zeitschrift für verhaftetes Denken“.
Das ganze Unternehmen stieß von Anfang an auf heftigen Widerstand. Noch bevor die erste Nummer herauskam, wurde Radulescu mit dem Tode bedroht. Da er sich unbeeindruckt zeigte, ließ man den Telefonanrufen subtilere Hinweise folgen: Plötzlich gab es kein Papier für diese Veröffentlichungen, die Druckerei war ausgebucht mit wichtigeren Aufträgen... Und als Memoria am Ende doch erschien (Nr. 1 im November 1990), tat man einiges, um ihren Vertrieb im Land zu verhindern, schlug zum Beispiel Buchhändler zusammen, die es wagten, Memoria zum Kauf anzubieten.
Radulescu machte jedoch weiter, trotz all der Drohungen und materiellen Schwierigkeiten – bis es ihn schließlich selbst traf. Am 3.Januar 1991 um 19 Uhr hielt ein Auto im Zentrum Bukarests neben Banu Radulescu an. Zwei junge Männer stiegen aus, schlugen ihn nieder und bearbeiteten ihn einige Minuten – was auf seiten der Angreifer von guten Nerven zeugt, denn Radulescu ist ein schlanker und zerbrechlich wirkender Mann.
Sein Verbrechen, mit dem sich Radulescus Angreifer nicht abfinden können, hat Orwellsche Züge. Der Versuch, das Gedächtnis einer lobotomisierten Nation wiederherzustellen, verärgert die, denen an einer nationalen Amnesie gelegen ist. So simpel ist das.
Radulescu mochte wohl gedacht haben, daß er frei sein könnte, wenn er erst einmal die kommunistischen Gefängnisse und sogar den Kommunismus selbst überlebt hat. Aber die Tatsachen sprechen eine andere Sprache. Für ihn und so viele Rumänen waren die Ereignisse vom Dezember 1989 wie eine zweite Entlassung aus dem Gefängnis. Welches Ereignis könnte Radulescu jetzt noch befreien? Er ist jetzt über 70 Jahre alt, und man denkt mit Trauer daran, daß seine einzige Hoffnung auf Veränderung recht radikaler Natur sein könnte: durch das Ereignis nämlich, das uns am Ende alle befreit, wenn auch nur auf strikt individueller Basis.
Bis dahin wird Rumänien befallen sein vom dänischen Syndrom, wie Prinz Hamlet es einmal formulierte: Das ganze Land ist ein Gefängnis, und etwas ist faul. Zwei äußerst dramatische Ereignisse in seinem Leben haben Radulescu noch nicht zu einem freien Mann gemacht. Dennoch schreibt er weiter, dennoch bleibt er seinen früheren Pfadfindertugenden treu, dennoch glaubt er weiter daran, daß der Bleistift mächtiger ist als das Schwert. Während man zur Zeit die Schwerter in den Hüllen läßt, werden Fäuste um so liberaler eingesetzt und nicht weniger heftig. Und vielleicht ist dem, der diese Fäuste für sich arbeiten läßt, weniger vorzuwerfen als denen, die ihre Fäuste immer noch auf diese Weise zum Broterwerb einsetzen mögen. Florian Bican
Der Autor ist Zweiter Sekretär der rumänischen Schriftstellergewerkschaft. Er arbeitet als freier Schriftsteller und Übersetzer in Bukarest.
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