: Steine auf den Bundespräsidenten
■ Weizsäcker propagiert Asylrecht/ Autonome stürzen die antirassistische Manifestation ins Chaos
Berlin (taz/dpa) – Mehr als 350.000 Menschen demonstrierten gestern in Berlin gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Nachdem sie in zwei Demonstrationszügen friedlich zum Lustgarten in Berlin-Mitte marschiert waren, endete die Kundgebung dort im Tumult. Als Bundespräsident Richard von Weizsäcker und andere prominente Politiker die Bühne betraten, begann eine kleine Gruppe von Demonstranten mit Farbeiern, Tomaten und Steinen zu werfen. Immer wieder von technischen Pannen des Lautsprechersystems unterbrochen, konnte Weizsäcker seine Rede nur hinter einem Spalier von Polizisten, notdürftig mit Regenschirmen geschützt, in einer gekürzten Version halten. Er propagierte den Erhalt des Asylrechtes und ein Einwanderungsgesetz. Nach dem Bundespräsidenten trat Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, an das Mikrophon und sagte: „Ich schäme mich für das, was hier passiert ist. Wir sind nicht im Jahr 1938, sondern 1992.“
Bevor sich die Demonstrationszüge in Bewegung gesetzt hatten, waren Fürbittandachten abgehalten worden. In der Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg forderte der Bischof der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg, Martin Kruse, daß Gewalt von Christen nicht gerechtfertigt werden dürfe. Bischof Klaus Engelhardt, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, betonte in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche die Verbundenheit der Christen mit den jüdischen Menschen in Deutschland, forderte aber auch, das Gespräch mit denen zu suchen, die für Rechtsextremismus und Antisemitismus anfällig sind.
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gingen sowohl Vertreter der Regierung wie der Opposition und Repräsentanten von Wirtschaft, Kirchen, Gewerkschaften und Kultur gemeinsam auf die Straße.
Das Motto war dem Artikel 1 des Grundgesetzes entlehnt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Neben Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und Bundeskanzler Helmut Kohl waren auch die Ministerpräsidenten der Bundesländer auf der Straße – mit Ausnahme des bayerischen CSU-Regierungschefs Max Streibl, der die Demonstration als reine „Schaufensterveranstaltung“ abgelehnt hatte.
Ein beachtlicher Teil der Demonstranten hätte es auch lieber gesehen, wenn die Politiker allesamt zu Hause geblieben wären. Immer wieder schallten ihnen Sprechchöre wie „Heuchler, Heuchler“ oder „Rassisten“ entgegen. Rita Süssmuth konterte diese Parolen mit den Worten: „Demonstrationen gegen Ausländerhaß können nicht nur einige wenige für sich in Anspruch nehmen.“ Zum Eklat kam es im Lustgarten. Mit großem Beifall quittierten die Kundgebungsteilnehmer zunächst den Brief der Quedlinburgerin Roswitha Dreysse, die mit anderen Bürgern ihrer Heimatstadt im Harz im vergangenen September das dortige Asyslbewerberheim mit einer Mahnwache vor Angriffen geschützt hatte. Die Gewalt von Jugendlichen gegenüber Ausländern, aber auch untereinander sei „Signal für die im Grunde vorerst nicht gelungene Geburt eines neuen Deutschland“, hieß es in dem von einer Nachrichtensprecherin verlesenen Brief.
„Politische Hilflosigkeit ist kaum mit einer Großdemonstration wettzumachen“, erklärte Frau Dreysse, die dazu aufrief, vor allem jene Kräfte zu bekämpfen, die sich die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen „zu eigenen politischen Zielen nutzbar machen“. Seite 3
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