: Die karge, ehrliche Moderne
Das architektonische Gesamtwerk des Architekten Heinrich Tessenow (1876–1950) – sein Einfluß auf die folgenden Generationen bis heute ■ Von Martin Kieren
Handwerker im Geist und zunehmend rationalistisch im Stil, war Heinrich Tessenow einer der einflußreichsten Architekten dieses Jahrhunderts. Er erschloß die italienischen Prototypen karger Architektur für die Meister der Moderne. Eine italienische Tessenow-Monografie ist jetzt auf deutsch erschienen.taz
Charles-Edouard Jeanneret – später unter dem Namen Le Corbusier bekannt geworden – arbeitet von April 1910 bis Mai 1911 in Berlin, wo er im Büro von Peter Behrens ein Praktikum absolviert. Behrens gehört in dieser Zeit, neben Theodor Fischer und Hermann Muthesius, zu den Vertretern seiner Zunft, die sich aktiv an einer Architekturreform in Deutschland beteiligen. Ihren ersten Kulminationspunkt erreicht diese Reform in Hellerau bei Dresden, wo in diesen Jahren die erste deutsche Gartenstadt entsteht – mit eben jenem Anspruch, der als Ausgangsidee hinter dieser aus England importierten Gartenstadtbewegung steht: die gesellschaftliche und kulturelle Erneuerung der Menschengemeinschaft durch Verwandlung ihrer Mitglieder in „Zukunftsmenschen“.
Neben der avisierten Bodenreform, die hauptsächlich aus der Vergesellschaftung der Bodenrente und somit in der Verhinderung der kapitalistischen Bodenspekulation bestand, sind es in Hellerau künstlerische und erzieherische Momente, die dieses Projekt so berühmt gemacht haben. Der Industrielle Karl Schmidt, Gründer der Dresdner (Möbel)- Werkstätten und 1906 eigentlicher Initiator der Gartenstadt Hellerau, arbeitet eng mit Wolf Dohrn zusammen. Dieser ist ebenfalls an der Gründung der Hellerausiedlung beteiligt und ab 1908 erster Sekretär des 1907 gegründeten Deutschen Werkbundes (DWB), der seinen Sitz in den ersten Jahren eben in Dresden-Hellerau nimmt.
Die Jeannerets in Hellerau
Wolf Dohrn wiederum engagiert sich stark für die Gründung eines „Instituts für rhythmische Gymnastik“ in Hellerau – genauer: eines „Jaques-Dalcroze-Instituts“. Der Schweizer Dalcroze arbeitete seit Ende des 19. Jahrhunderts an einer Form des früheren Ausdruckstanzes als Teil einer Strategie der Lebensreform – in Form der „Rhythmisierung des Lebens“ –, wie sie überall in Europa zu dieser Zeit diskutiert und erprobt wird. Für dieses Institut soll nun ein eigenes Haus errichtet werden. Dohrn gewinnt für diesen Zweck den noch jungen und relativ unbekannten Architekten Heinrich Tessenow, der gegen viele Widerstände – auch des Architekten der Siedlung Hellerau, Richard Riemerschmid – einen ensprechenden Entwurf vorlegt. Dalcroze ist begeistert: „Tessenows Zeichnungen befriedigen mich vollständig in technischer Hinsicht. Damit will ich sagen, daß mir hier alle räumlichen Gestaltungsfragen so gelöst zu sein scheinen, wie ich es mir gewünscht hätte. Aber darüber hinaus muß ich mit der größten Freude feststellen, daß auch meine moralischen und künstlerischen Ziele von Tessenow verstanden worden sind. Der Stil seiner Gebäude, ihre Schlichtheit und Harmonie, entsprechen vollkommen dem Stil der rhythmischen Gymnastikübungen.“
Und ein Freund und Mitarbeiter Dalcrozes, der Erneuerer der Bühnenkunst und des Musiktheaters, Adolphe Appia: „Tessenow hat in fast genialer Weise begriffen, daß sich die Architektur dieses Gebäudes gegenüber dem Leben, das hier erweckt werden soll, zurückhalten muß. Er hat verstanden, daß der Stil dieses Instituts in völligem und heiter unaufdringlichem Verstummen jeder Linie und jeder Oberfläche liegt.“
Jeanneret, alias Le Corbusier, besucht im Oktober 1910 seinen jüngeren Bruder Albert, der sich als Musiker 1905 Dalcroze angeschlossen hat und mit diesem nach Dresden gegangen war. Er begenet einer kleinen Zahl von interessanten, intellektuellen Persönlichkeiten, die sich hier im Zuge der Reformbemühungen mittlerweile eingefunden haben. Er ist sogleich begeistert von der in Hellerau herrschenden Aufbruchstimmung, der allerdings religiöse Momente ebenso eingeschrieben waren wie pathetisches Bekehrertum. Er erkennt aber auch sogleich die ungeheure Kraft Tessenows, wenn er schreibt: „Ich liebe die Suchenden“; er spricht von den hier versammelten „größten Künstlern Deutschlands“, wobei er wiederum Tessenow an erster Stelle nennt – und er wird in der Folge von Tessenow eingeladen, an der endgültigen Ausarbeitung des Entwurfs für die große Bildungsanstalt mitzuarbeiten. Nach anfänglichem Zögern lehnt er allerdings ab (Tessenow behielt sich den „interessantesten Teil der Arbeit am Entwurf selbst vor“), notiert aber in sein carnet: „Tatsache ist, daß der Theatersaal, den Tessenow, Jaques und Salzmann für Hellerau entwarfen, einen Meilenstein in der künstlerischen Entwicklung der Epoche darstellen wird.“ Mit Dalcroze beginne „eine Ära der Güte, mit dem Häuserbauer Tessenow eine Ära der Nützlichkeit.“ Damit sind auch die religiös-bekehrenden Schlagworte der in den folgenden Jahren einsetzenden Debatte um die moderne, funktionalistische (=nützliche) Architektur, um das „Neue Bauen“ benannt. Tessenow als Vater dieser Bewegung?
Handwerker und Zeichner
Die oben erzählte Geschichte illustriert einmal mehr, daß es nicht immer die bekannten Namen sind, die den größten Einfluß ausübten. Tessenow schrieb sich aber allein schon mit dem oben erwähnten Projekt in Hellerau in die Architekturgeschichte ein. 1876 in Rostock geboren, studiert er 1896 an der städtischen Bauschule in Neustadt-Mecklenburg, 1897 in Leipzig und ab 1900 an der Technischen Hochschule in München. Ab 1902 eigene Lehrtätigkeit in Sternberg, Lüchow, Salleck und Trier. Ab 1910 dann freiberuflich in Hellerau und 1913–18 Professer an der Wiener Kunstgewerbeschule. 1920–26 ist er Leiter der Architekturabteilung der Akademie der bildenden Künste in Wien, 1926–41 und ab 1946 wieder Professor an der Technischen Hochschule in Berlin.
Wichtig blieb für ihn immer die Erfahrung der Zimmererlehre, die er im Betrieb seines Vaters ab 1892 absolviert. Und dieses Handwerkliche blieb für ihn das Muß für den Beruf des Architekten, des Baumeisters. Nicht nur der Bildungsanstalt in Hellerau ist Tessenow nämlich über den engeren Kreis der Kollegen im Bund Deutscher Architekten und im Deutschen Werkbund hinaus bekannt geworden, sondern vor allem als Handwerker, Zeichner und Buchautor. 1907 erschien in Form von vier Heften „Zimmermannsarbeiten“, im Jahr 1909 sein erstes Buch „Wohnhausbau“. Dabei sind es die schlichten Formen, die, die sich aus den einfachsten und somit preiswertesten Konstruktionsmethoden ergeben, die Tessenow entwirft und propagiert. Er entwickelt in diesen Jahren auch ein eigenes System, die sogenannte „Tessenow-Wand“. 1926 folgen das Buch „Hausbau und dergleichen“, und 1919 „Handwerk und Kleinstadt“. Die Bemühungen um den Kleinhausbau rühren zwar einerseits aus der „Arts and Crafts“-Bewegung, die Vereinfachungstendenzen mit den prismatisch geschnittenen Hausformen, den glatten Flächen, Giebeldächern und berankten Laubengängen zeichnen aber auch schon einen selbständigen Weg in die Architektur dieser Jahre.
Das Vorbild
Sein Leitbild bleibt in dieser Zeit die Kleinstadt und die idealisierte Tätigkeit des Menschen. Experimente, wie sie das „Neue Bauen“ der zwanziger Jahre fortan hervorbrachte, bleiben ihm fremd. Ein Hang zum Traditionalismus kann bei einer solchen Haltung zwar nicht ausbleiben – aber in dieser Tradition sah er für sich noch weitere Entwicklungsmöglichkeiten, ohne einer volkstümelnden und populistischen Nostalgie zu verfallen. Er selbst sah in Goethes Gartenhaus so etwas wie den Prototyp des kleinen, einfachen deutschen Hauses, wie überhaupt seine Kleinhausprojekte Züge der Zeit um 1800, also des Biedermeier, tragen. Genau hier fand er – als theoretisches und verwirklichtes Modell – die erstrebte Einheit von Funktion, Material und konstruktiver Durchbildung des „Typs“ auf handwerklicher Grundlage vor.
In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre baut Tessenow – der allgemeinen wirtschaftlichen lage entsprechend – eher wenig. Neben drei kleineren Siedlungen entsteht 1925–27 die staatliche Internatsschule in Klotzsche bei Dresden, ein großer Komplex mit Unterrichtsgebäude, Wohngebäuden für Schüler und Lehrer, einer Mensa und einer großen Aula. 1927 entworfen und 1930 vollendet, wird ein Lyzeum in Kassel, heute Malwida-von-Meyenburg-Schule, ein ruhig geformter, kubischer Baukörper, der schon ein wenig an Bürogebäude erinnert, dabei aber auch die für Tessenow ab dieser Zeit typische Strenge aufweist. Immer mehr nähert er sich nämlich der Gestaltung der Massen, ihrer Rhythmisierung und bei der Proportionierung des Verhältnisses von Wand und Öffnung Positionen an, die man später mit dem Begriff des „Rationalismus“ verbindet.
Gerade deshalb ist es wohl verständlich, daß Tessenow einen so großen Einfluß auf Zeitgenossen, aber auch auf spätere Generationen ausüben konnte. Bewunderer seiner Haltung, die sich selbst immer treu blieb in der Verfolgung des einen Zieles, nämlich ehrlich und einfach zu sein, waren so unterschiedliche Charaktere wie J.J.P. Oud, Le Corbusier und Giorgio Grassi. Dabei kam er bei der Darstellung seiner Arbeiten mit dem einfachen dünnen Tuschestrich aus, eine Art zu zeichnen, die für ihn typisch blieb. Seine Aufrisse, Ansichten und gemäßigten Perspektiven verweisen somit immer auch auf die Person Tessenow, auf seine ideale Einfachheit und Bescheidenheit.
Daß es einmal mehr ein Italiener ist, der einen wichtigen Teil der deutschen Architekturgeschichte des Beginns der Moderne aufgearbeitet hat und uns als Buch präsentiert, ist so verwunderlich nicht. In den letzten zwanzig Jahren waren es vor allem immer wieder italienische Architekturhistoriker, die auf die Bedeutung der deutschen Architektur der zehner, zwanziger und dreißiger Jahre verwiesen. Aber in Italien finden sich eben auch die Prototypen der abendländischen Baugeschichte, die sich im Werke Tessenows und bei einem seiner italienischen Bewunderer (G.Grassi) wiederfinden: diese unauffälligen und neutral-monumentalen Gebäude, still, kubisch-glatt mit karger Wand, schmucklos bis zur Inszenierung à la Giorgio de Chirico und durchdrungen von rationalem Geist bis zur Kälte.
Marco de Michelis: „Heinrich Tessenow. Das architektonische Gesamtwerk“. Mit einem vollständigen Werkverzeichnis. Aus dem Italienischen von Peter Paschke und Peter Schiller. 351 Seiten, 726 Abb., gebunden, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 148 DM
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