Unser Verhältnis zum Krieg

Versagen die Bemühungen um rationale Kriegsursachen-Forschung und vor allem um Kriegsvermeidung angesichts des „Schattenreichs“ übermächtiger kollektiver Identifikationsbedürfnisse?  ■ Von Karl Otto Hondrich

Kriege sind, dem vorherrschenden alltagssprachlichen und sozialwissenschaftlichen Verständnis zufolge, mit Gewalt ausgetragene Konflikte zwischen Staaten oder politischen Gruppen. An den drei zentralen Elementen dieses Verständnisses: Konflikt – Gewalt – politische Organisation setzen denn auch die Überlegungen der Friedensforschung zur Kriegsverhütung an: Konflikte sind, wenn nicht auszurotten, so doch durch eine Politik des Interessenausgleichs an den Wurzeln zu behandeln und zu entschärfen; an die Stelle gewaltsamer Lösungsversuche können dann rationale Verhandlungen und Kompromisse treten. Politiker sind vom Volk über demokratische Institutionen so zu kontrollieren, daß sie ehrgeizige Eigenziele nicht mehr mit kriegerischen Mitteln verfolgen können.

Ich kritisiere diese Vorstellungen nicht, weil sie utopisch wären, im Gegenteil. Die realen alltäglichen Beziehungen zwischen Staaten und Völkern verlaufen überwiegend nach ihrem Muster. Nicht auszudenken, wie die Welt aussähe, wenn dem nicht so wäre! Gute Gründe und viele Anzeichen sprechen sogar dafür, daß die angedeuteten Vorstellungsmuster eine starke normative Kraft entfalten und sich in der Weltgesellschaft noch ausbreiten. Und dennoch: Entscheidende Dimensionen und Funktionen von Konflikt, Gewalt und Gruppenbeziehungen blenden sie aus und bleiben deshalb von den Kriegsgründen auf eine seltsame Weise entfernt.

Indem sie Konflikte auf Auseinandersetzungen über Interessen, Gewalt auf ein Mittel zur Konfliktlösung, Politik auf individuelle Zielbestrebungen (seien diese vernünftig oder pathologisch) zurückführen, lassen sie die andere Seite sozialer Realität – die identitätsstiftende Bedeutung von Konflikten, die expressive Funktion von Gewalt, die kollektive Bestimmtheit politischen Handelns – im dunkeln. Möglicherweise aber sind es diese Aspekte sozialer Existenz, die sich, normalerweise latent bleibend, in außeralltäglichen Situationen zu Kriegsgründen verdichten. Daß sie in unseren zeitgemäßen Überlegungen zu Krieg und Frieden unterbelichtet bleiben, ja verdrängt werden, hat sicher mit unseren Kriegserfahrungen und dem Wunsch zu tun, den Krieg nicht mehr zuzulassen und den Frieden zu machen. Liegen die Gründe für den Krieg in jenem Schattenreich, in das wir auch mit unseren Forschungsfragen nur schwer hineinkönnen und ungern hineinwollen, dann sind der Machbarkeit des Friedens Grenzen gesetzt. Ein beunruhigender Gedanke. Soziale Konflikte werden im Krieg zwar sichtbar und oft zum äußersten gesteigert, der Krieg selbst jedoch ist im Grunde kein Konflikt, sondern der oft verzweifelte Versuch einer „Abhilfsbewegung“ gegen Entzweiungen (Georg Simmel), also einer Auflösung von Konflikten, die sich im Frieden – und früheren Kriegen – ausgebildet und oft lange geschwelt haben. Daß diesen Konflikten durch eine richtige Gesellschaftsordnung und eine Politik des ökonomischen Ausgleichs und der Beteiligung benachteiligter Gruppen an politischer Herrschaft die Spitze genommen werden könnte, gehört zu den weithin geteilten Grundthesen der Friedensforschung. Dieser Hoffnung stehen leider zwei Beobachtungen entgegen. Die erste kann man nach dem scharfsinnigen Sozialanalytiker der französischen Revolution wie der amerikanischen Demokratie als Tocquevilles Theorem bezeichnen: Je mehr unterdrückte und benachteiligte Gruppen Befreiung oder Besserstellung erfahren, desto konfliktfähiger und -freudiger werden sie. Selbst wenn ihre Ansprüche wirtschaftlich erfüllt werden können, sind damit die Motive, Kriege zu führen, nicht beseitigt, nicht einmal ernsthaft berührt. Denn, wie Quincy Wright, der bedeutendste unter den Kriegsforschern, festgestellt hat, spielen ökonomische Faktoren bei der Entstehung von Kriegen allenfalls eine indirekte, zusätzliche Rolle. Kriege können nicht durch den Kampf um knappe Ressourcen erklärt werden.

Ein Blick auf die gegenwärtigen Kriege auf dem Balkan und in der ehemaligen Sowjetunion bestätigt dies: die aus der Unterdrückung auftauchenden Völker führen nicht gegen Diktatoren oder für wirtschaftliche Interessen Krieg (so wie aus den Klassenkämpfen auch anderswo keine Klassenkriege wurden), sondern für Zusammengehörigkeitsgefühle und Lebensformen, die religiös, sprachlich, durch gemeinsame historische oder zukunftsorientierte Wertbilder bestimmt sind. Kurz: für ethnokulturelle Identität.

Die Suche nach kollektiven Identitäten ist keine Angelegenheit, die der Vergangenheit angehört. Sie ist ein altbekannter Vorgang, dessen Bedeutung aber in der Moderne nicht nachläßt, sondern noch wächst. Je mehr Staaten und Völker sich füreinander öffnen und einander in einer Weltgesellschaft näherrücken, desto größer werden auch die Verwicklungen, Konflikte, Abgrenzungsbemühungen von Wertgemeinschaften, die sich selbst behaupten wollen oder auf der Suche nach neuen Ufern sind. Konflikte darüber, was man selbst ist, mit wem man eins und von wem man getrennt sein will, werden, anders als Interessenkonflikte, mit besonderer Leidenschaft ausgetragen. Die Affektivität jener Konflikte, die wir aus Paarbeziehungen und -trennungen kennen, potenziert sich noch in kollektiven Prozessen, in denen die Gefühle vieler Menschen einander im Gleichklang bestärken.

Trotzdem: Können nicht auch diese leidenschaftlichen Identitätskonflikte im rationalen Diskurs und durch Verhandlungen, also letztlich ohne Gewalt geregelt werden? Die Fortschritte bei der innerstaatlichen Eindämmung von Gewalt können uns hoffen lassen. Aber auch dabei sollten wir die Augen nicht davor verschließen, daß unterhalb der beim Staat konzentrierten Gewaltpotentiale auch private Gewalt bleibt und zum großen Teil von Menschen gegen Menschen gewandt wird, die sich intim kennen. Gerade auch in Situationen sozialer Nähe können Verhandlungen in eine Ergebnislosigkeit führen, die zumindest für einen der Beteiligten unerträglich ist. Das gilt für Individuen und für Kollektive. Kriegerische Gewalt scheint in solchen Fällen oft mehr zu sein als ein Mittel der Politik zur Konfliktbewältigung. Hören wir nur genau hin, wie die bosnischen Muslime ihren aussichtslosen Kampf begründen! Und lesen wir bei Clausewitz: „Ich glaube und bekenne, daß ein Volk... unüberwindlich ist in dem großmüthigen Kampf um seine Freiheit. Daß selbst der Untergang dieser Freiheit nach einem blutigen und ehrenvollen Kampf die Wiedergeburt des Volkes sichert und der Kern des Lebens ist, aus dem einst ein neuer Baum mit sicheren Wurzeln schlägt..“

Wir berühren damit ein Verständnis vom Kriege, das uns besonders befremdlich und unzeitgemäß erscheint: die kämpferisch organisierte und ritualisierte Gewalt als identitätsstiftende Kraft eigner Art – kann man sagen: als Selbstwert? Wenn der Ausdruck des individuellen – und erst recht: des kollektiven – selbst so eng mit Gewalt verbunden ist und manchmal nur durch Gewalt möglich erscheint, läßt sich der Krieg durch Kosten-Nutzen-Kalküle und voraussehbare Opfer nicht schrecken, im Gegenteil: kollektive Identität „fordert“ diese Opfer, „erbringt“ sie und ist auch in der Klage noch stolz darauf. Daß der Zusammenhang von kollektiver Identität, Gewalt und Opferstolz in Deutschland durch die Verbrechen des Nazi-Regimes und den Holocaust moralisch diskreditiert und zerrissen wurde, ist womöglich ein historisch erstmaliger Vorgang. Aber können wir sicher sein, daß diese Diskreditierung zum Normalfall wird? Daß wir daraus ein für allemal gelernt haben? Lebt der unheilvolle Zusammenhang nicht im Selbstverständnis gewalttätiger Jugendgruppen schon wieder auf?

Es ist gerade fünfzig Jahre her, da der Zusammenhang von Gewalt, kollektiver Identitätssuche und Opfertum in Deutschland furchtbar und faszinierend zelebriert wurde. Die Nazis haben ihn inszeniert – erfunden haben sie ihn nicht. Wenn die Geschichte Hitlers die Geschichte seiner Unterschätzung ist, dann sind wir vielleicht dabei, diese Unterschätzung nun gegenüber der Kultur der Gewalt und der Prägekraft kollektiver Identitäten insgesamt zu wiederholen – indem wir Kriege nicht anders verstehen wollen denn als reine Machenschaften im Dienste politischer oder ökonomischer Interessen. Eine solche Interpretation ist entlastend, denn was gemacht wird, kann auch wieder weggemacht werden.

Dem Bild des Krieges als einer Veranstaltung des Führers oder einer politischen Klasse von Individuen entspricht das Bild der Kriegsvermeidung durch eine demokratische Kontrolle, die ebenfalls auf Individuen als selbstbestimmende Bürger zurückgreift, die sich sehr wohl davor hüten würden, Kriege zu beschließen, die sie selbst zu bezahlen hätten.

Was in dieser Sicht zu kurz kommt, ist die Tatsache, daß die Menschen neben höchstpersönlichen und selbstbezogenen Vorstellungen, Bedürfnissen, Interessen, also einer individuellen Identität, auch solche Gefühle in sich tragen, die sie mit anderen teilen und die sich auf den Zustand des Gemeinwesens beziehen. Solche kollektiven Identitäten sind Vorstellungen davon, mit wem man zusammengehört und für welche Werte man zusammensteht. Sie sind vielfältig und erschöpfen sich nicht in familiären, religiösen, ethnischen, nationalen Wir-Gefühlen; auch emphatischer Individualismus als Lebensform kann zu einem kämpferischen Wir-Gefühl werden – und ist von den Vereinigten Staaten in den Krieg geführt worden. In der spürbaren Übereinstimmung mit den Gefühlen anderer erfahren Einzelgefühle eine Steigerung, Ladung und kämpferische Schubkraft, die sie als individuelle Identitäten nicht erreichen können. Auch so erklärt sich die Affinität von kollektiven Identitäten, Emotionen und Gewalt.

Ob kollektive Identitäten im Konflikt sich des Ehrgeizes politischer Führer bedienen oder ob diese sich zum Sprachrohr von „Wir-Gefühlen“ machen, um persönliche Machtgelüste zu befriedigen, ist eine durchaus offene Frage. Jedenfalls: aus ökonomischen Interessen allein können Kriege, wie wir gesehen haben, nicht gemacht werden und aus dem Nichts auch nicht. Die Frage, woraus sie gemacht werden, führt immer wieder zu kollektiven Identitäten zurück, die ihrerseits nicht beliebig manipulierbar sind, sondern sich in hochkomplexen und konfliktreichen Prozessen ausbilden.

Das Credo der Friedensforscher „Kriege werden gemacht“ ist deshalb so richtig wie irreführend. Richtig, weil kollektive Identitäten im Konflikt in der Regel ihre politischen Repräsentanten finden, die für sie handeln. Irreführend, sofern der Eindruck erweckt wird, die politischen Akteure handelten aus eigener Machtvollkommenheit und könnten sich den legitimatorischen Hintergrund ihrer Entscheidungen nach Belieben schaffen. Irreführend auch in dem Glauben, das Volk als Komposition von rationalen Individuen würde, wenn es die machtversessenen Politiker in demokratischen Verfahren nur richtig an die Kandare nehmen könne, „den Frieden machen“.

„Wie sehr hatten sich diejenigen geirrt, die von einem Anteil der Völker am Staatsleben oder, wie Kant sich ausgedrückt hat, von einer Republikanisierung der Staaten eine Verminderung der Kriege erhofften. Früher hatte ein besiegter Staat nur den Verlust von Provinzen zu verschmerzen, ein Minus an berechenbaren Machtmitteln. Fortan hatte man verlorene Brüder und Schwestern zu beklagen, und dieser Verlust war unberechenbar“, schrieb Friedrich Meinecke. „Die Orientfrage, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lediglich eine Machtfrage und ein politisches Rechenexempel zwischen den Großmächten gewesen war, ... erhielt ihre volle Virulenz und Gefährlichkeit für Europa erst durch die nicht mehr zu bändigenden nationalen Aspirationen der Balkanvölker.“ Vor siebzig Jahren für die Vergangenheit geschrieben, für heute prophetische Worte! Keine Überlegung zum Kriege ist heute denkbar, ohne daß der Autor seine Ansicht zu den Bedingungen der Möglichkeit des Friedens darlegt. Ich habe dies an anderer Stelle getan, bezweifle aber mittlerweile die Nützlichkeit von Analysen, die unter dem Postulat stehen, der Friedenspolitik zu helfen und sich deshalb auf die politisch gestaltbaren Bedingungen von Krieg und Frieden konzentrieren. Dem gegenüber ziele ich keine „Theorie des Krieges“ an, sondern erörtere nur drei unangenehme soziale Tatbestände (wobei ich viele weitere weglasse): sich selbst erzeugende Konflikte, eigenwertige Gewalt, kollektive Gefühle. Alle drei haben tiefe Wurzeln in der Kulturgeschichte der Menschheit. Was aber viel beunruhigender ist: alle drei sind keine Relikte der Vergangenheit, sondern werden auf dem weiteren Weg in die Moderne immer neu herausgefordert. Sie sind Weggefährten in die Weltgesellschaft, Bestandteile des Fortschritts, in dessen geschöntes Bild sie nicht passen. Politische Maßnahmen und moralisches Engagement können, fürchte ich, den Krieg nicht an den Wurzeln fassen. Entwertet werden sie dadurch nicht, auch wenn sie nur an Symptomen ansetzen können. Die Situation der Politik gegenüber dem Krieg gleicht der der Medizin gegenüber (noch) unheilbaren Krankheiten. Therapeutische Eingriffe können das Leiden auch verschlimmern. Der Kampf gegen den Krieg wird weiter geführt werden müssen – aber nicht mit dem Ziel des Sieges (das ja selbst der Sprache des Krieges entlehnt ist), sondern mit dem Bild des Sisyphus vor Augen. Aus den Paradoxien und Dilemmata dieses Kampfes werden uns weder die normativen Entwürfe der Friedensforscher noch ein Forscher militärischer Interventionismus entlassen können. Wer heute mit Soldaten auf den Balkan ziehen will, um Frieden zu erzwingen, wird den Krieg zunächst nur noch anheizen. Aber auch Gesellschaften, die dem Krieg abgeschworen haben, müssen sich revidieren, sofern sie mit unerträglichem Unrecht und Unmenschlichkeiten konfrontiert werden. Auf die Option des Krieges verzichtet letztlich nur, wer alle anderen Wertverletzungen hinzunehmen bereit ist.

Vom Autor bearbeitete Fassung eines Aufsatzes, der im November in „Der Krieg – ein Alltags- und Kulturphänomen“, Hrsg. Peter Krasemann, Aufbau-Verlag, erscheinen wird. Karl Otto Hondrich ist Professor an der Universität Frankfurt.