: Barocke Körper, Gambenklänge
■ „Die siebente Saite“ von Alain Corneau
Ein rauher Holztisch, eine Korbflasche Wein, ein paar Waffeln auf einem Zinnteller, das flackernde Licht einer Kerze. Abend für Abend zelebriert Monsieur de Ste. Colombe diese Liturgie; er hat sie dem Angedenken seiner früh verstorbenen Frau und der reinen, absoluten Liebe zur Musik geweiht. Nacht für Nacht versenkt er sich in die schwermütigen Klänge seiner Gambe, er hat ihr gar eine siebte Saite hinzugefügt, welche dem Instrument zusätzliche melancholische Töne zu entlocken vermag.
Die Kamera vollführt keine Bewegung, die von der Musik und der Einsamkeit Ste. Colombes ablenkte, sie wagt es nicht, sein Schweigen zu brechen. Alain Corneau und sein Kameramann Yves Angelo haben ihre Bildkompositionen im gedämpften Helldunkel der französischen Vanitasmalerei des 17. Jahrhunderts gehalten: es sind Stilleben im eigentlichen Sinne, natures mortes, aus denen der Tod noch nicht verbannt ist. Man muß lange suchen in diesem Kinoherbst, um einen Film zu finden, dem es gelingt, in gleichsam stummen Bildern derart viel zum Klingen zu bringen; allenfalls Terence Davies „The Long Day Closes“ gelingt etwas Ähnliches.
„Die siebente Saite“ ist eine Meditation über den Tod und die Musik. Natürlich erzählt sie auch von der Liebe, vor allem aber von dem Verhältnis eines Schülers zu seinem Lehrmeister. Monsieur de Ste. Colombe wird von einer wilden, verzweifelt und zornig hingebungsvollen Liebe zur Musik beherrscht. Jean-Pierre Marielle spielt ihn als heftigen, unzugänglichen und dabei schüchternen Menschen, der der Welt, vor allem dem Hof von Versailles, den Rücken zugekehrt hat. Als Jansenist ist er zudem ein Abtrünniger der Staatsreligion.
Seine beiden Töchter erzieht der Patriarch mit hilfloser Strenge. Madeleine (Anne Brochet), die ältere der beiden, hat sein ungestümes und unbedingtes Temperament von ihm geerbt. Marin Marais (als alter Mann spielt ihn Gérad Depardieu, als Heranwachsender praktischerweise sein Sohn Guillaume) mag die Gambe als Instrument gewählt haben, weil ihr Klang eine große Ähnlichkeit mit der menschlichen Stimme hat: der Stimmbruch hat ihn um die ersehnte Karriere eines Sängers betrogen. Auf alle Fälle weiß er um die Verführungskunst der Musik; augenblicklich verliebt sich Madeleine in ihn.
Nur widerwillig nimmt Ste. Colombe ihn als seinen Schüler an, heikel ist ihr Verhältnis von Anfang an. Er ist ein erbitterter Widerstreiter der Temperamente und Auffassungen, dennoch legt Ste. Colombe seine Leidenschaft in die Lektionen: selbst das Heulen des Windes, der Urinstrahl eines Dieners geraten ihm zum Lehrstoff, in dem er seinen Schüler unterweisen muß. Der Absolutheitsanspruch Ste. Colombes kennt zunächst nur Bedauern und Verachtung für die ersten Versuche Marais': „Das ist eine Musik, die unterhält, aber nicht erschreckt.“ Marielle macht indes kein Geheimnis daraus, daß der Meister auch Neid hegt angesichts der Fortschritte und Erfolge seines Schülers. Später – Marais hat Madeleine längst verlassen und damit ihr Leben zerstört, hat bei Hofe reüssiert und dadurch die Ideale seines Meister verraten – plagen ihn Schuldgefühle. Er ahnt, daß Ste. Colombe das Geheimnis seiner Kompositionen mit ins Grab nehmen wird und will sie der Nachwelt, auch um den Preis des Betrugs an dem weltabgewandten Musiker, bewahren. Er sucht ihn auf, auch in der Hoffnung, von ihm die Absolution zu erhalten: eine letzte, eine erste Lektion, eine Totenwache, während der Marais lernt, daß jede Note bei ihrem Ausklingen sterben muß.
Corneau und der Autor Pascal Quignard (er schrieb statt eines Drehbuchs zunächst einen Roman, den er dann gemeinsam mit Corneau adaptierte) können derart viel Transzendenz wagen, da ihr Film vollends im Gegenwärtigen, im Konkreten verwurzelt ist. Ihre Dialoge sind von fast barocker Körperlichkeit. In der Gambenmusik – das Instrument blieb im Kino bisher erstaunlich unentdeckt, einzig Hans Werner Henze hat es in seiner Partitur zu „Der junge Törless“ trefflich eingesetzt – wird das Gefühl des Verlustes greifbar: die Töne der Gambe klingen auch dann noch nach, wenn die Handlung längst schon vorangeschritten ist, wenn sich die Stimmung einer Szene schon gewandelt hat. Der Film kann das Unerhörte wagen, weil er in Pierre Gamet einen Tonmeister besitzt, dem nichts entgeht: das Geräusch des Streichbogens beim Musizieren, das Schlürfen des trinkenden Marielle, das Knacken des Feuerholzes, das Zerbrechen der Waffeln, nicht einmal der leise Pinselstrich eines Malers im Bildhintergrund. Und er ist sogar wagemutig genug, der Stille zuzuhören. Gerhard Midding
„Die siebente Saite“ (Tous les matin du monde). Frankreich 1991. Regie: Alain Corneau, Buch: Pascal Quignard und A. Corneau, mit: Jean-Pierre Marielle, Gérard Depardieu, Anne Brochet
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen