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Was heißt schon leben ...

■ Selbst einige Schriftsteller gehören heute zu den Mordkommandos in Bosnien

Schon lange kann ich die Stimmen meiner guten Freunde aus Sarajevo nicht mehr hören, aber Nachrichten erreichen mich auf mancherlei Wegen. Manchmal sind es kurze Mitteilungen und Grüße, manchmal ein Telefaxbrief, der auf geheimen Kanälen zu mir gelangt. Meist jedoch sind es Anrufe mir unbekannter Menschen, die etwas über meine Freunde wissen. Sie berichten mir Tatsachen und Einzelheiten, und jedesmal, wenn ich schon gewohnheitsmäßig sage: Gott sei Dank, daß er/sie lebt, empfängt mich am anderen Ende der Leitung Schweigen oder ein Seufzer. So als wäre das nicht mehr das Wichtigste, als sollte diese Pause im Dialog bedeuten: Was heißt schon leben, wo es kein Leben gibt. Trotzdem schwingt in allen diesen Stimmen Freude mit, wenn sie von Lebenden sprechen, sei ihnen auch nur eine Frist von ein, zwei Monaten oder ein, zwei Tagen gegeben.

Viele Gespräche machen mir immer klarer, daß sich innerhalb des blutigen Dramas noch ein Drama abspielt, in dem es um die Rettung der Seele geht. So erzählte mir vorgestern abend eine Freundin, die nach Split entkommen ist, daß die Nachbarn in ihrem Wohnhaus, Menschen unterschiedlicher Nationalität und durchweg Widerstandskämpfer der ersten Stunde, beschlossen haben, gemeinsam in Sarajevo zu sterben. Alle, die gehen könnten, es aber nicht tun, führen im Grunde einen Kampf um die Rettung der Seele, sofern wir die Seele als unvergänglichen Wert begreifen wollen.

Mein Freund Ivan Lovrenović hat mir ein paar schreckliche, deprimierende Zeilen geschrieben. Ich kenne ihn als sensiblen Schriftsteller und als ruhigen, zurückhaltenden Menschen. Bis vor kurzem hat er geglaubt, Bosnien würde zu seiner inneren Energie zurückfinden und der Herausforderung durch die Kräfte des Bösen widerstehen. Bosnien, das schon einmal durch einen infernalischen Alptraum gegangen ist, habe keine Reserven mehr für Übeltaten. Heute hat dieser scharfsinnige Intellektuelle den Gedanken an eine politische Lösung, eine militärische oder andere Intervention aufgegeben, weil Bosnien nicht mehr gebraucht wird. Vampire haben ihm das Leben ausgesaugt, es gibt hier nichts zu erneuern. Jede Hoffnung auf neue Möglichkeiten ist Selbstbetrug, jeder Traum von einer Umgestaltung die reine Illusion und jeder Gedanke an ein gemeinsames Leben utopisch. Wenn irgendwo eine neue Ordnung eingeführt wurde, dann in Bosnien – die Ordnung des Nichts.

Dieser Zustand ist von biblischer Intensität, aber bloß lokaler Tragweite, darum erkennt niemand diese Intensität. Der Freund schreibt mir, daß seit den Tagen, da wir noch miteinander telefonieren konnten, ein ganzes Zeitalter des Entsetzens verstrichen und nun schon wirklich alles absolut und unwiederbringlich verloren ist.

Vor ein paar Wochen traf in Rijeka eine Bekannte ein, der zusammen mit ihrer achtjährigen Tochter die Flucht aus dem gespenstischen Sarajevo geglückt ist. Wir redeten lange miteinander, einen ganzen Nachmittag. Sie ist überzeugt, daß sich die Prophezeiung Jesajas dort bereits erfüllt hat: das Volk ist wie Speise des Feuers; keiner schonet des andern. Im Anfang glaubten die Menschen noch, die Welt würde ihnen helfen; jetzt fühlen sie sich verlassen und abgeschrieben. Das Brot, das sie bekommen, hat die symbolische Bedeutung einer Henkersmahlzeit. Unter Tränen fragt meine Bekannte: „Warum hat Gott uns diese Höllenstrafe auferlegt?“ Aber Swedenborg sagt, daß die Menschen sich selbst in die Hölle stürzen und daß Gott daran nicht beteiligt ist. Gott ist das Gute und tut demzufolge nichts Böses. Das Böse kommt von den Menschen. Und das sind nicht mehr die Fremden, sondern die Nachbarn, das einfache Volk aus unseren Kaffeehäusern. Sie haben sich unsere Freunde genannt, wir haben am selben Tisch gesessen und miteinander gezecht. Ich kannte einige Schriftsteller, die heute zu den Mordkommandos gehören. Sie wirkten lammfromm. Ihre Gesichter waren unschuldig, ihre Worte sanft. So einer war der Prosaschriftsteller Miroslav Toholj aus Sarajevo, den ich oft in meinem Haus empfangen habe. Meine Bekannte berichtet, daß dieser Künstler jetzt im Lager Pale Gefangene verhört, mit aller dem Metier innewohnenden Grausamkeit.

In der Zeitschrift Novi Danas habe ich zögernd und zweifelnd darüber geschrieben, daß der Romancier, Literaturtheoretiker und Universtitätsprofessor Dr.Vojislav Maksimović mit dem abgeschlagenen Kopf eines „islamischen Fundamentalisten“ aus Foča auf einer Wiese Fußball gespielt haben soll. Diese Angabe hatte ich mehrmals in der Presse gefunden, sie aber trotzdem unter Vorbehalt angeführt, weil ich gelernt habe, Tatsachen gwissenhaft zu überprüfen. Ein, zwei Tage nach der Publikation rief ein geflüchteter Freund aus Bosnien an und sagte, er verstehe meine Reserve, aber es ginge hier um eine ganz gewöhnliche Sache in bezug auf Dr.Maksimović, der vor den Studenten häufig mit der Pistole herumgefuchtelt habe. Nachdem Minister Ostojić den abgetrennten Kopf aufs Spielfeld gerollt hatte, soll jemand gerufen haben: „Laß sein, Voja, mach dir nicht die Socken blutig.“ Meine Bekannte berichtet, daß in Sarajevo eine Videokassette mit dieser Fußballszene kursiert. Trotzdem sträube ich mich noch immer gegen solche Tatsachen. Brutalitäten, wann immer möglich, abzumildern ist eine der ästhetischen Regeln, die Faulkner bevorzugte.

In dem kleinen Café unter meinem Fenster singt jemand vom verwüsteten Bosnien. Diese zitternde Stimme, diese selben Worte habe ich schon als Kind im Wirtshaus meines Vaters gehört. Während ich diesen Text schreibe, begleitet mich die Stimme wie ein Weinen. Der Film spult zurück, und die Trauer von damals kommt wieder. Ich gehe hinunter ins Café, um den Mann zu sehen, der singend und trinkend die Klage und Bitternis ob des ganzen balkanischen Elends in sich zu ersticken versucht. Ich schaue ihn an, und er kommt mir vor wie derselbe Mann, der einst das Wirtshaus meines Vaters betrat, weil er den Zug verpaßt hatte, und der bis heute von seinem verwüsteten Bosnien singt. Mirko Kovać

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