Schnurrer oder die Wiedergutmachung

■ Zu Brigitte Kronauers Kurzgeschichtensammlung

Welche vorsichtigen, intimen Rituale können wir uns ausdenken, um mit der allgegenwärtigen Verzweiflung fertigzuwerden? Wie und wo verschaffen wir uns ein ruhiges, abgesondertes Plätzchen, um zufrieden wie eine Katze schnurren zu können, ohne uns doch völlig der Möglichkeit wilder Lust und Ausschweifung zu berauben?

Schnurrer ist zunächst ein Puzzle in fünfundzwanzig Kurztexten, fünfundzwanzig Mikroepisoden aus dem Leben Karl-Rüdiger Schnurrers, eines zeitgenössischen Jedermanns. Brigitte Kronauer setzt virtuos die Kurzform ein, um der Beweglichkeit der seelischen Materie auf die Spur zu kommen. Wenn Schnurrer so vor sich hin denkt, wird er dabei von Erzählerin und Leser erwischt. Er besitzt eine erstaunliche Gabe, sich von der Außenwelt, besonders der menschlichen Umwelt, abzukapseln, um sich dem eigenen Gedankengang zu widmen. Aus Liebe zur inneren Robinsonade läßt er sich gern von Objekten oder sinnlosen Aufgaben verführen, wie etwa der Suche nach einem Druckknopf, den seine Frau eben verloren hat: „'Hör doch auf ...‘, kam von oben. Nichts da! Was er anfing, führte er auch anständig zu Ende ... Es gefiel ihm ganz gut zwischen den vier Tischbeinen. 'Meine Eremitage, meine Einsiedlerey!“ sagte er sich in seiner stillen, viereckigen Einsamkeit unter dem Küchentisch.“

Daß Schnurrer mit seinen Tagträumereien und seinen kleinen Obsessionen die sexuellen Wünsche seiner Frau erst wahrnimmt, als sie sich gekränkt die Bluse bereits wieder zuknöpft, gehört zu den Strafen, die er für seine skurrilen Meditationen bezahlen muß. Er läßt seine Gedanken umherwandern und springt hemmungslos vom Hölzchen aufs Stöckchen, vom Wesentlichen aufs Banale, vom Banalen aufs Unerhörte. Er wundert sich zuweilen über die mangelhafte Kontrolle seiner Gedankengänge: „Höchste Zeit, sich zu sammeln ... Wirklich, wie sollte er an diesem Abend mit seinen Seiten fertig werden, wenn nun schon wieder die Gedanken hinwanderten oder -wehten zu einem eingezäunten, von einer wohlgenährten Hühnerherde ratzekahl gefressenen Grundstück mit allerlei Kisten, Tonnen, brüchigen Treibhäusern? ... Es tauchte aber jetzt vor ihm die Blitzlichtfotografie einer Ginsterkatze auf ... Wie kam er denn da jetzt drauf?“ Brigitte Kronauers Stil folgt einfühlsam dem Rhythmus von Schnurrers innerem Treiben. Ihre Sätze sind komplex, flexibel, offen für Umwege, witzige Assoziationen und feine Abtönungen. Sie erlauben Korrekturen, Annäherungen und Widersprüche, die im Unbewußten herrschen und verschiedene Triebe nebeneinander existieren lassen.

Besonders gern und boshaft verfolgt Kronauer besonders die Gedanken und Gemütsbewegungen, in denen sich das Skurrile mit dem Peinlichen mischt: „Schnurrer freute sich. Heute abend sollte es schön angemachtes Rinderhack geben, aber schon jetzt, so früh, war ein bescheidener Sieg zu feiern. Wieder hatte er, insgesamt ein stattlicher Fang, drei Mark ergattert: auf einer Postkarte die nicht abgestempelte 60-Pfennig-Marke, auf einem Päckchen eine Mark und eine Mark und vierzig. Das kam manchmal in einem ganzen Monat nicht als Gewinn heraus, und immerhin sah er jede eintreffende Postsache vor allem daraufhin an.“ Was man sieht, wenn man den Deckel über dieser Psyche hochhebt, ist nichts Erbauliches, nichts Großartiges, sondern lediglich ein egoistisches, eitles, kindisches Wesen.

Aber auch ein ungeheuer fragiles. Schnurrers Selbstbewußtsein wird Gefahren und Verletzungen ausgesetzt. Es kämpft um einen Ausweg, um Rettung aus den Gefühlen der Langeweile, der Mutlosigkeit und Nichtigkeit. Die Erzählerin belauert ihr Geschöpf bei seinen Verhandlungen mit sich selbst und bei der inneren Verarbeitung der schmerzlichen Erfahrung mit seinen Mitmenschen. Schnurrer geht es jedoch darum, alles „wiedergutzumachen“, ein Happy-End zu erzwingen, ganz gleich, was dies an Einbildungskraft oder gar komischen inneren Ritualen verlangt. Und das, obwohl Schnurrer selbst ein mitleidloser Voyeur ist, der bei seinen Mitmenschen genau das entdeckt, was ihn selber quält. Es entsteht eine Spiegelbeziehung zwischen ihm und den Charakteren, die ihn umgeben. So wird er auch zu einer Figur, die zur Einfühlung verleitet. Zugleich aber ist er einer, auf dem jedermann (und in erster Linie die Autorin) seine Wut über die menschliche Natur und über sich selbst abladen kann. Ein Sündenbock also.

Die Erzähltechnik und die Ironie, besonders aber die Böswilligkeit dem armen Schnurrer gegenüber fallen schon beim ersten Lesen auf. Jenseits dieser Psycholektüre entdeckt man dann jedoch auch andere Ariadne-Fäden. Die Kraft des Textes liegt in den vielen Lesarten, die er ermöglicht.

Die Wahrnehmung macht sich Orte und Landschaften zu eigen, indem sie sie interpretiert. Einen Friedhof sieht Schnurrer als eine Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielfläche, die Linie eines Deiches als „Augenreim“, und eine Knäckebrotoberfläche als planetarische Landschaft. Schnurrers Dingverliebtheit gibt Brigitte Kronauer ausreichend Gelegenheit, mit Objektbeschreibungen und -assoziationen zu brillieren.

Aber gerade dieser Versuch, sich den Raum durch Miniaturisierung und Deutung anzueignen und in der „Weite“ Intimität zu etablieren, stößt auf Widerstand: es gibt „begriffsstutzige Landschaften“, die sich Schnurrers Erwartungen entziehen, es gibt auch „Störenfriede“, wie einen Jogger, einen modernen Totentänzer. Der zerstört Schnurrers prekären Modus vivendi mit dem Ort, dem Friedhof.

Todesboten sind diese „Störenfriede“, die immer wieder an die Fragilität von Gefühlen wie Geborgenheit oder Glück erinnern. Denn das eigentliche Leitmotiv aller Schnurrergeschichten ist der Tod. Wie sich hier alles im mikroskopischen Maßstab abspielt, so auch die Begegnung mit dem Tod. Beim Beobachten seiner Frau empfindet Schnurrer Ekel vor dem Altern und dem Verfall, die er hinter ihren Zügen ahnt. Ständig wird er von der Lust- und Mutlosigkeit anderer Leute angegriffen, die nur das Bild seiner eigenen Leere spiegeln. Da kann auch die munter als Weltgesetz proklamierte Behauptung, „alles hänge eben doch am Sex“, nichts „wieder gut“ machen.

Schnurrers Wunsch nach dieser allgemeinen „Wiedergutmachung“ nimmt existentielle und pathetische Dimensionen an. Es geht nicht nur darum, mit der eigenen Lächerlichkeit und Kleinkariertheit auszukommen, um die Welt für sich selbst erträglich zu machen. Auch der Tod soll gezähmt, das „andere Ufer“ vertraut werden.

Die Schnurrer-Geschichten sind kleine Parabeln über den Umgang mit dem alltäglichen Tod. Sie alle sind nach demselben Muster gebaut: eine innere Tragödie droht, aber Schnurrer versucht, sie mit kleinen Donquichotterien noch einmal abzuwenden.

Daß die Wiedergutmachung, die Überwindung oder Vermeidung der Krise wie in einer Komödie immer gelingen, geht zurück auf die Entscheidung der Autorin, aus Schnurrer keinen tragischen Helden zu machen und ihm die Rettung seiner (und auch unserer) skurrilen Fantasie zu gönnen. Béatrice Durand

Brigitte Kronauer: „Schnurrer. Geschichten.“ Klett-Cotta Verlag. 135 Seiten, gebunden, 28 DM