Theater spielen, wo immer ein Brett ist

Die Bremer Shakespeare Company stellt sich in der Freien Volksbühne mit einer Werkschau vor  ■ Von Berthold Rünger

Sie wirken wie mit dem Planwagen auf Reise, ganz so wie einst Molière, der mit seiner fahrenden Truppe Geld und erste Sporen verdiente und dabei lernte, publikumswirksam mit wenigen Mitteln zu zaubern – zunächst noch ohne die Subventionen Ludwigs des XIV. Tatsächlich fing 1983 die Bremer Shakespeare Company im Kammertheater in der Böttcherstraße auch mit der Vorgabe an, alles müsse in einen Transporter gehen. Heute ist die Ladefläche noch immer wenig über drei Meter lang. Gut, ein Anhänger muß sein.

1988 hat ihnen die Stadt eine ehemalige Turnhalle am Leibnitzplatz zu einer passablen Stätte von 350 Sitzplätzen, also in Kammerspielgröße, ausgebaut. Einen Betriebskostenzuschuß gibt es als festen Titel im Stadtetat, von den Politikern aller Parteien gewollt, dann aber und immer noch in der Höhe heftig umstritten. Zeitweilig finden ihre Vorführungen hier mehr Publikum als das Staatstheater. Ein Reisetheater blieb die Bremer Shakespeare Company dennoch. Fast die Hälfte ihrer Einnahmen erspielt sie zwischen Hamburg und München, hauptsächlich in mittleren Städten, die ein Theater, aber kein Ensemble mehr haben. Irgendwo im Emsland, die Schauspielerin Katrin Winkler versucht vergeblich, sich an den Namen des Städtchens zu erinnern, spielten sie den „Sturm“. Da saßen breithändige Bauern, und es ging doch. Sie spielen überall, wo „nur ein Brett ist“.

Nun sind sie mit einer Werkschau zu Gast im fast riesigen Haus der Freien Volksbühne in der Scharperstraße. Es mußte einige Veränderungen hinnehmen. Die Bühne wurde in den verbreiterten Mittelgang für die Seiteneinsicht ausgedehnt, um die vierte Wand zwischen Bühne und Zuschauern niederzulegen.

Die Bremer empfangen das Publikum, fertig kostümiert und von eigener Hand geschminkt, in der Kassenhalle. Scherzend werden die Programme an Frau und Mann gebracht. Ein Ensemble – zum Ansprechen nah. Volkstümlichkeit ist nicht nur Stilmittel ihrer Inszenierungen, die Bremer sind geübt mitteilsam und leutselig, ein wenig wie die Sprücheklopfer auf den Marktplätzen. Schon ist das Publikum etwas in seinem seelischen Alltagspanzer gelockert für Furcht und Mitleid mit den Figuren, über die man lachen und erschrecken wird.

Was sie mit der Werkschau nicht nach Berlin mitbringen können, sind die öffentlichen Proben in ihrem Bremer Haus, die die Entwicklung einer Inszenierung begleiten. Den Zuschauern werden die Notausgänge gezeigt, das Theater wird geschlossen, und nun müssen Ensemble und Publikum sich eineinhalb Stunden ertragen. Von den Diskussionen ging so manche wichtige Anregung für die Gestaltung einer Figur oder eines Bühnenbildes aus, hauptsächlich testet das Ensemble die Wirksamkeit seiner Ideen.

So kann „Macbeth“ als hochriskantes Regietheater entstehen und doch ein Publikumsrenner sein: Am vergangenen Donnerstag gab es vor vollem Haus viel Beifall. Die wenigen Buhrufe quittierte das Ensemble mit sichtlich erfreutem Schmunzeln. Der hohe Ton des Dramas ist völlig weg, gespielt wird homo homini lupus. Auf der Bühne liegen rotbraune Tuchknäuel wie Fleischfetzen und auch wie Steine einer kargen schottischen Heidelandschaft, im Hintergrund der Thron, über dem der blutrote Königsmantel hängt und um dessentwillen Macbeth mit seiner Frau den Königsmord begeht.

Macbeth und Blanquo, die siegreichen Feldherrn, treten welpenhaft wie Raufbolde, dabei kindlich albernd wie unterbeschäftigte Bundeswehrsoldaten auf. Die Brust ist unter der geöffneten Uniformjacke nackt, als wäre man in den Tropen Vietnams. Der Krieg hat sie auf ihre roheste Natur gebracht, geblieben ist bei Macbeth eine zarte Empfindung für seine Männlichkeit, die er gefährdet fühlt, und deshalb kehlig-heiser übermäßig behauptet. Der Königsmord wird zum Test. Nach der Siegerehrung dürstet es ihn nach mehr, auch Lady Macbeth als kumpelhafte Komplizin kommt auf den Geschmack der Erhöhung in der Gesellschaft wie auf eine Erlösung von einem sonst sinnarmen Leben.

Und doch ist die Company nicht festgelegt auf einen Stil. Von mittlerweile 17 Shakespeare-Produktionen ist die jüngste „Titus Andronicus“ in der Regie von Pit Holzwarth geradezu von gediegener Klassik (die taz berichtete gestern auf diesen Seiten). In den Feldherrn Andronicus trägt Norbert Kentrup den zurückhaltenden Militär, der Tod und Vernichtung aus eigener Anschauung kennt, den gehorsamen, fast unselbständigen Diener des Staatsinteresses und den römischen pater familias mit uneingeschränktem Recht über Leben und Tod seiner Kinder. Und so erschlägt er einen Sohn, der sich ihm bei der Flucht seiner Tochter Lavinia entgegenstellt, und später die zum Monstrum verstümmelte Lavinia, um die Quelle seiner Tränen zu beseitigen. Gegen seinen massigen Körper vereint Norbert Kentrup diese Widersprüche in einem eleganten und volksverbundenen Heerführer. Hinter der Fassade wird ein Mann mit Edelmut sichtbar, der mit sich gekämpft hat, und dem zivilen Staat als Handlungsrahmen zu sehr vertraut.

Das Gegenbild ist der Zivilist und Bruder Marcus (Robert Brandt), wie mit der landmännischen Gradlinigkeit und Festigkeit eines Abraham Lincoln ausgestattet, beseelt von einer bodenständigen Vision vom guten Staat und guten Leben. Am Ende, wenn der finster gewordene Sohn Lucius (Christian Dieterle) die Macht übernimmt, folgt er ihm besorgten Blicks. Einer wird Herrscher, den die Erfahrung nicht reicher, sondern kühler, die eigenen Leiden nicht milder, sondern zynischer gemacht haben. Themen und Fragen für einen großen, ernsten Abend.

Das Volkstheater der Company ist mittlerweile zu einer eigenständigen Kunstfertigkeit geworden für außerordentlich verschiedene Produktionen. Es bleibt die Grundausstattung. Bühnenbilder aus Stoffbahnen. In den „Lustigen Weibern von Windsor“ hängen sie am doppelten Kreuz aus Seilen. Tücher, die in der Mitte einen quadratischen Raum schaffen und, beiseite geschoben, binnen Sekunden die Konturen von Wald, Feld oder anderem annehmen. Das ist oftmals doch der Weisheit letzter Schluß: Räume entstehen – so viele man braucht – in der Phantasie des Zuschauers, wo immer gewitzt so getan wird, als gäbe es sie. Der Bühnenraum, derart locker gestaltet, verliert die maschinenhafte Starre der Spielgehäuse, die einem sonst so oft präsentiert werden. So war Shakespeares Bühne, darauf vertrauen sie.

Manches glückt ihnen nicht, wie die gelegentliche Überlastung von Spielern mit den zahlreichen Rollen in einem Stück und der zu geizigen Verwendung von Requisiten. Der Koffer für die Stoffhaufen in „Macbeth“ ist schon Wallanlage und Altar, als Sarg kann man ihn schließlich einfach nicht mehr ernst nehmen. Auch fällt es schwer, das zeitkritische Stück „Unter dem Glück“ vom Truppenmitglied Dagmar Papula ernstlich zu würdigen. Zu zufällig und beliebig ist die Handlung, um die Figuren zu erschließen: Am 70. Geburtstag erleidet die Mutter einen tödlichen Schock durch einen abstürzenden Düsenjäger. Durch ihre Berufe und ihre Lebensform, stellt sich heraus, sind die versammelten Kinder mitschuldig. Das oberflächlich aus Zitaten montierte Stück wird selbst durch die Schauspielkunst der Truppe nicht erträglicher.

Die überspringende Lebendigkeit der fünfzehnköpfigen Bremer Shakespeare Company im Programm und in den Inszenierungen ist indes hauptsächlich der Selbstverwaltung Gleichberechtigter – mittlerweile schon aus drei Generationen – zu verdanken. „Es gibt keine demokratischen, sondern nur Veto-Entscheidungen.“ In der Produktion ist ein ständiger hoher Aufwand erforderlich, um alle zu überzeugen, auch alle wirklich zu integrieren. „Alkoholiker haben wir keine“, sagte einmal Peter Lürchinger in einem Gespräch. „Auch keine Magenkranken“, fügte Norbert Kentrup hinzu. Die Schmerzen, welche Hierarchien gelegentlich verursachen, haben sie nicht. Dafür natürlich die Schmerzen der Mitbestimmung.

Spieltermine: siehe Programmteil