: Zurück zur Schleuder
■ Kunst zum Ausschneiden, 13. und letzte Folge: Jochen Gerz
Auf einem weiß gestrichenen Sockel liegt eine Zwille, zehn Schritte entfernt auf dem Fußboden der Stein, ein Findling aus einer Sandkuhle in Osterholz- Scharmbeck. „Der Stein will zurück zur Schleuder“, so nennt Jochen Gerz seine Arbeit von 1978, zu sehen in der Weserburg.
Gerz versteht sich als Realist. Die Scheinwirklichkeit des Abbildes wird bei dieser Arbeit zugunsten der greifbaren Wirklichkeit aufgehoben. Ist der Stein ein „Ready Made der Natur“? Jochen Gerz schreibt, „daß die Natur nicht in dem Bild von ihr zu finden sei“. Der Stein im Museum ist Original und Gegenbild zugleich; das bedeutet Distanz und Nähe, Veränderung und Versteinerung; ein Zeichen für Zeit in ihrer Dauer.
Gerz kommt aus der Literatur, veranstaltete Performances, produzierte Video- und Rauminstallationen, Fotos und Texte. Er verbindet das Wort mit dem Bild; seine Texte zeigen, wie wichtig ihm die Sprache ist. Nicht nur mit ihr übt er Kritik am Kunstbegriff, am Umgang mit der Natur.
Auch das proportionale Mißverhältnis zwischen Stein und Schleuder verweist auf diesen Themenkreis. Die Installation könnte auch an David erinnern, der den Riesen Goliath mit einer einfachen Schleuder besiegte, oder an Sisyphus, der dazu verdammt ist, einen Felsblock vergeblich den Berg hinaufzuwälzen. Aber so weit brauchen die Gedanken des Museumsbesuchers nicht in die Geschichte zurückzugehen. Zwar konnte der politische Künstler Jochen Gerz, der zusammen mit seiner Frau Esther Shaler Gerz in Hamburg ein „ Mahnmal gegen Faschismus und Rassismus“ errichtet hat, 1978 noch nichts von den heutigen Steinewerfern ahnen, Künstler sind jedoch durchaus Seismographen.
Zum Gedankenspielen hier noch eine kleine Litanei über den Stein; für Goethe übrigens der Inbegriff des Glücks: steinalt; steinreich; Steine aus dem Weg räumen; Steinigung; Stein und Bein schwören; viel Steine gab's und wenig Brot; Edel-und Karfunkelstein; bei jemandem einen Stein im Brett haben; es möchte sich ein Stein erbarmen; wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein; wer wälzte den Stein vom Grabeingang Christi; wo diese schweigen, werden die Steine schreien.
Vielleicht ist dieser im Museum ein Stein des Anstoßes, vielleicht kann er buchstäblich zum Reden gebracht werden: als Stein der Weisen...
Endlos könnte man hin- und herpendeln zwischen Kunstwerk und Redensarten. Ein Zitat noch, aufgeschrieben von Michel Leiris: „Meine Ammen waren Steine. Ich bin ein Sohn der Steine; wie diese bin ich hart und brüchig...und so bin ich für alle Zeit zur schrecklichen Ungewißheit des Treibsandes verurteilt“. Auch Jochen Gerz nimmt dieses Thema des sich Infragestellens immer wieder auf. „Wer sieht mir an, daß ich kein Stein bin?“, fragt er, und weiter: „Der Stein sieht sich um und sieht hinter sich die winzige Schleuder.“ Diese unvermutete Bewegung ist ein Charakteristikum des Künstlers.
...Damit endet der Skulpturen- Rundgang in der Weserburg. Wir hoffen, was die Vielseitigkeit der Aneignung von Kunst anbelangt, einen Stein ins Rollen gebracht zu haben. Christine Breyhan
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