■ Nach Mölln: Wenn staatliche Gewalt versagt ...
: Für einen neuen Gesellschaftsvertrag

Ralf Giordano hat in einem Brief an Helmut Kohl angekündigt, daß die Juden sich selbst verteidigen werden. Man kann diesen Appell als einen Vorschlag für alle Nichtdeutschen verstehen. Denn seit sie Angriffen ausgesetzt sind, befinden sich viele von uns Nichtdeutschen in dem Zwiespalt, ob wir dieses Land verlassen oder uns wehren sollen.

Diese Alternative stellt sich jedesmal, wenn nach Angriffen Presse, Funk und Fernsehen ausschließlich Kommentare abgeben, man habe doch diese Jugend ohne Perspektiven zu verstehen. Dieses Verständnis zeigen Politiker in der Asyldebatte, wenn sie gleich nach den Horrormeldungen von Gewalt gegen Nichtdeutsche klarstellen, daß in Deutschland zu viele Nichtdeutsche seien. Damit werden im Handumdrehen die Opfer zu den eigentlichen Verursachern gestempelt, und das Verständnis für perspektivlose Jugendliche schließt auch ihre Überfälle, Zerstörungen und Mordtaten mit ein.

Wo staatliche Gewalt eindeutig gescheitert ist, entwickelt sich nur ein Gedanke bei uns: die Sache in die eigene Hand zu nehmen. Diese Haltung birgt natürlich auch die Gefahr der Eskalation in sich. Diese Gefahr wird nicht durch Mitleid für „Ausländer“ und „Gastarbeiter“, die seit langem in diesem Land leben, gebannt. Solange Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft nicht über die Staatsbürgerschaft, sondern über das Deutschsein definiert wird und den Nichtdeutschen jegliche Bürgerrechte vorenthalten werden, solange die Grenzen zwischen den „Deutschen“ und den „anderen“ völkisch, nationalistisch und rassisch definiert sind, wird diese Eskalation kein Ende finden. Alle, die sich gegen solche Verbrechen stellen wollen, müssen begreifen, daß dieses Land nicht mehr den Deutschen, sondern den Menschen verschiedener Nationalitäten gehört. Nötig ist ein neuer Gesellschaftsvertrag, an dem alle beteiligt sind.

Gewiß, ein solcher Vertrag und die Staatsbürgerschaft sind keine Zauberformeln, die den Angriffen ein Ende setzen werden. Aber die Frage wird nicht mehr die sein, ob die Deutschen den liebevollen, hilfsbedürftigen Ausländern helfen sollen oder nicht. Das Problem muß anders angegangen werden: Es gibt Angriffe gegen Bürger dieses Landes. Wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger zu schützen, dann ist es Aufgabe aller, sich selbst zu verteidigen. Es muß also nicht darüber diskutiert werden, ob wir als Nichtdeutsche uns verteidigen, sondern ob alle Bürger dieses Landes die Verteidigung organisieren müssen. Weil es sich hier um Bürger- und Menschenrechte handelt. Und gerade diese beiden Rechte kennen keine Nationalität. Taner Akcam

arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung