„Wenn mich einer angreift: Ich drücke ab“

■ Die TürkInnen in Kreuzberg fühlen sich alleingelassen und bedroht

Berlin (taz) – In einen türkischen Haushalt gehört ein Seil. Darüber sind die Männer einig. In großer Runde diskutieren sie die Morde von Mölln. Im Fernsehen haben sie gesehen, daß ihre verzweifelten Landsleute Gardinen aneinandergeknotet haben, um den Flammen zu entkommen. Aber Gardinen brennen leicht. Also Seile. Das werden sie auch ihren Frauen zu Hause sagen. Nach Mölln gehört ein Seil in jeden Haushalt.

An zwei Tischen wendet man sich dem Kartenspiel zu, am dritten wird weitergeredet. Kein Café, keine türkische Kneipe in Berlin- Kreuzberg, der heimlichen Hauptstadt der TürkInnen in Deutschland, in der am Montag abend der Brandanschlag nicht für Gesprächsstoff sorgte. Während draußen im Nieselregen Autonome mit den „Bullen“ Katz und Maus spielen, Blaulichter zucken und die Straßen rund um die U-Bahn-Station Görlitzer Bahnhof vom großen „Laalüü“ der Polizeisirenen widerhallen, kneift drinnen, in der verrauchten Luft des Cafés, Mehmet G. die Augen zusammen und sagt ruhig: „Wir haben erwartet, daß es so kommt. Und da kommt noch mehr.“

Längst durchzieht die Bedrohung durch rassistische Gewalt den türkischen Alltag in Deutschland. Die Frau des Ältesten in der Runde, Osman K., arbeitet in einer Siemens-Zweigstelle in Ostberlin. Wenn sie Spätschicht hat, kommt sie mit S- und U-Bahnen erst um Mitternacht nach Hause. Osman K. erwartet sie stets in Angst. Wenn er früh zur Arbeit gehe, erzählt Mehmet G. und steckt sich die nächste Camel in seine Zigarettenspitze, bleibe er in Gedanken bei seiner Familie: „Passiert ihnen was?“ Ein Makler klagt, Wohnungen in Ostberlin könne er bei seinen Landsleuten nicht loswerden: „Nur welche, die sonst unter der Brücke schlafen müßten, nehmen eine Wohnung im Osten.“ Und ein junger, arbeitsloser Maschinenführer und glühender Fan der Kreuzberger Fußballmannschaft Türkiyemspor wird „nur noch im Bus und in einer großen Gruppe“ zu Spielen seines Vereins außerhalb Berlins fahren. Vor zwei Wochen in Cottbus haben deutsche Hooligans die Scheiben seines Autos eingeworfen und türkische Fans mit Steinen und Messern angegriffen. Die Bewegungsfreiheit ist längst eingeschränkt. Touristische Ausflüge nach Ostberlin stehen nicht auf dem Programm. „Nur hier in Kreuzberg“, so die einhellige Meinung, „haben wir noch Ruhe.“ Denn „hier trauen die sich nicht hin, weil sie wissen, was dann passiert“. Würde die Gemeinschaft angegriffen, würde sie sich wehren. Und was für die Gruppe gilt, gilt auch für jeden Einzelnen. „Ich habe schwarze Haare, ich bin ein Türke“, sagt einer, der eine Jeansjacke trägt und bisher dem Gespräch der Älteren nur zugehört hat. „Wenn mich einer angreift, dann rede ich kein Wort mit dem. Ich drücke ab.“

Er habe sich eine Pistole beschafft und trage sie immer bei sich. Fünf Männer sitzen in der Runde. Zwei sind bewaffnet. Sie sagen es offen, und niemand ist schockiert. Die Frage der Bewaffnung, des Selbstschutzes wird nicht erst seit Mölln und nicht nur unter den Männern in den Cafés, sondern bis in die Familien hinein diskutiert. Er habe Streit mit seinem „ziemlich linken“ Schwiegersohn, berichtet Osman K. Während er selbst mit dem Gedanken spiele, sich zu bewaffnen, meine der Mann seiner Tochter, „mit roher Gewalt“ ließen sich die Probleme nicht lösen. „Aber was sollen wir denn tun?“ fragt Mehmet G.: „Wir sind schließlich nicht aus Abenteuerlust hierher gekommen, wir wollen diese Eskalation nicht. Aber wenn es so weitergeht, dürfen sich die Deutschen nicht wundern, wenn demnächst Skins erschossen werden.“

Der Blick zurück gerät zornig. Zwanzig Jahre und länger habe man hier geschuftet, den deutschen Wohlstand vermehrt, Steuern und Rente gezahlt, kurz: „Unsere ganze Kraft haben wir hiergelassen.“ Und nun würden sie, ihre Frauen und Kinder alleingelassen mit der Gewalt, dem Fremdenhaß in der Schule, der Verschärfung dieser immer schon vorhandenen Heimatlosigkeit zwischen der deutschen Gegenwart und der türkischen Herkunft. Die Polizei sei zwar, wie jeder sehen könne, gut organisiert, meint Osman K. und weist mit dem Daumen auf die Light-Show der Polizeiwagen vor der Tür, „doch uns schützen die nicht“. Und, wo nun schon Privatwohnungen in Brand gesteckt würden, „können sie ja auch nicht vor jedes türkische Haus einen Polizisten stellen“. Von der Polizei oder gar der Politik noch Schutz zu erwarten, halten die Kreuzberger TürkInnen für illusorisch.

Die endlose Asyldebatte habe den Fremdenhaß geschürt, sagen die türkischen Männer, Rechtsradikale, die Brandsätze schmeißen, würden, wenn man sie überhaupt erwische, „gleich wieder laufengelassen“. Viel Zeit sei vertan, viel härtere Strafen hätten verhängt werden müssen, schärfere Gesetze müßten her, „so wie in der Türkei“. „Vielleicht ist es aber jetzt zu spät.“

Die TürkInnen organisieren sich. Eigentlich sei er gegen Gewalt und wünsche sich, daß er friedlich leben könne. Aber „wenn jemand aus meiner Familie angegriffen wird, dann schlage ich zurück“, sagt der Mann in der Jeansjacke, „da ist mir alles egal“. Und der Fan von Türkiyemspor, der den ganzen Abend die Perlen seiner tesbih durch seine linke Hand gleiten läßt, beschließt die Debatte um Selbstschutz und Waffen für heute mit Nachdenklichkeit. Er habe immer etwas gegen gewalttätige, türkische Jugendgangs gehabt. „Doch wenn die Jugendlichen ihre Waffen benutzen, um sich gezielt zu schützen, muß ich jetzt wohl dafür sein. Weil sie so ja auch mich schützen.“ Bettina Markmeyer