: Haushalt 93: Es wird weiter auf Pump gelebt
■ Um fünf Milliarden Mark will Schuldenminister Theo Waigel die Kredite des Bundes im kommenden Jahr erhöhen. Seit gestern berät der Bundestag
Haushalt 93: Es wird weiter auf Pump gelebt
Sollte es einen Schutzengel des Parlamentarismus geben, so muß er gestern einen Virus in die Bundestagscomputer geschmuggelt haben. Weil aufgrund von Computerfehlern die Mikrofonanlage des neuen Plenarsaals nicht funktionierte, mußten die Abgeordneten vier Stunden lang die gerade begonnenen Haushaltsberatungen unterbrechen. Entnervt verlegten sie die Debatte schließlich in den Saal des benachbarten Wasserwerks, den sie ja eigentlich vor gut drei Wochen – angeblich für immer – verlassen hatten. Möglicherweise erst im Januar, so gestanden die Techniker im Ältestenrat, könne der Bundestag zurück in den neuen Plenarsaal. CSU-Landesgruppenchef Wolfgang Bötsch sah den bösen Geist in der Person des Architekten Günther Behnisch. Ihm müsse man Hausverbot erteilen, verlangte der offensichtlich zum Exorzißmus neigende bayerische Politiker.
Tatsächlich kann es dem Parlamentarismus eher genutzt als geschadet haben, daß Bötschs Parteichef, Finanzminister Theo Waigel, stundenlang auf seinen Auftritt vor dem Parlament warten mußte. Denn die Opposition erwartete ohnehin eine „Gespensterdebatte“, so zumindest die düstere Prognose der PDS-Abgeordneten Andrea Lederer.
„Das Chaos war noch nie so groß“, urteilte der Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Rudi Walther von der SPD. Er meinte damit nicht die teuflische Technik, sondern die Finanzpolitik der Regierungskoalition. Nur zwei Tage vor der gestrigen Debatte hatte sie beschlossen, in einem Nachtragshaushalt weitere Ausgaben von über zwölf Milliarden Mark für die Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland zu verankern. Einsparungen und Umschichtungen im jetzt vorliegenden Haushaltsentwurf sollten diese Summe abdecken. Schon jetzt sei deshalb klar, daß Waigels Entwurf unvollständig und daher verfassungswidrig sei, folgerten SPD und Bündnis 90/ Grüne. Ihre Forderung, die Beratungen zu vertagen, lehnte die Koalition dennoch ab.
Die Eckdaten des Haushalts – ein Umfang von 436 Milliarden und damit 2,5 Prozent mehr als im Vorjahr – hätten auf alle Fälle Bestand, beteuerte der Finanzminister in seiner Rede vor den Abgeordneten. Alles andere freilich scheint offen. Die Haushaltsexperten von Union und FDP wußten auch gestern nicht genau, wie groß die zusätzliche Osthilfe sein wird und an welchen Stellen das nötige Geld eingespart werden soll.
Tabulose Kürzungen stoßen auf Kritik, selbst in der CDU
FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff und der Finanzminister wollen „keine Tabus“ gelten lassen. Man werde „nicht darum herumkommen“, die Sozialleistungen sowie Subventionen für die Landwirtschaft, die Werften und den Bergbau zu kürzen, hatte Lambsdorff bereits Montag gemeint.
Doch schon regt sich bei einigen CDU-Ministern Widerstand gegen zu schmerzhafte Einschnitte ins soziale Netz. Familienministerin Hannelore Rönsch etwa warnte Waigel davor, die Sozialhilfe einzufrieren.
Wenn man den Beschäftigten im öffentlichen Dienst einen Inflationsausgleich gewähre, müsse man dies den Sozialhilfeempfängern erst recht zugestehen. Auch die SPD hat noch ein Wörtchen mitzureden. Oppositionschef Björn Engholm war sich mit Kanzler Helmut Kohl bei einem Gespräch am Montag abend zwar in einigen Grundsatzfragen einig. Ausdrücklich lobte Engholm nach dem Gespräch Kohls neugewonnene Bereitschaft, „industrielle Kernbereiche“ in Ostdeutschland zu erhalten und zu sanieren. Über die Finanzierung dieser Wohltaten konnten sich Kohl und Engholm gleichwohl nicht einigen. Steuererhöhungen schon vor 1995 seien mit der Bundesregierung zur Zeit offensichtlich nicht zu machen, zuckte Engholm nach seinem Gespräch im Kanzleramt die Achseln.
Die Klarheit wird dadurch nicht größer, daß gleichzeitig selbst die FDP ihr striktes Nein zu jeder Steuererhöhung vor 1995 nicht so wörtlich meint, wie es sich anhört. Für die Bahnreform sei „im Zweifel“ wahrscheinlich eine höhere Mineralölsteuer nötig, räumte Lambsdorff am Montag ein.
Offene Fragen, wohin man blickt. Weil die letzten Konjunkturprognosen nur noch ein Wachstum von einem Prozent und entsprechend verminderte Steuereinnahmen voraussagten, mußte Waigel vor drei Wochen seinen Entwurf schon einmal auf die schnelle korrigieren. Vor einer Woche legten die Sachverständigen eine erneut nach unten korrigierte Konjunkturprognose vor, nach der es 1993 in Westdeutschland nur ein „Nullwachstum“ geben wird. Daraus will der Finanzminister einstweilen keine Konsequenzen ziehen – obwohl er selbst gestern davon sprach, daß ein Prozent weniger Wachstum Mindereinnahmen von sieben bis acht Milliarden bedeuten. Hans-Martin Tillack, Bonn
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