: Aber wann öffnet sie sich, die Flut über die Dürre
Gespräch mit Jean-Marie Straub und Danièle Huillet ■ Von Lars Henrik Gass
Selbst von Filmbuffs, die den Filmemachern Straub/Huillet nicht feindlich gesonnen sind, wird immer wieder behauptet, ihre Filme böten keinen „Kunstgenuß“, weil sie sich des Brechtschen Verfremdungseffektes und anderer Techniken des Epischen Theaters bedienten, die letztlich „unfilmisch“ seien. Lars Henrik Gass hat mit den Regisseuren über ihre Intentionen gesprochen.
taz: Nach der Berliner Uraufführung von „Antigone“ auf der Berlinale im Februar hat es mich sehr verblüfft, daß Sie Ihren Film als eine „Komödie“ bezeichneten.
Straub: Die vier Figuren in „Antigone“ sind von einem griechischen Chor so verschieden wie die vier Musketiere. Sie haben manchmal „recht“, wie auch Kreon manchmal „recht“ hat, und sind darüber hinaus meistens schwierig, opportunistisch und schamlos selbstverleugnend. Über diese Gangster kann man lachen. Der Wächter hat auch eine Komik. Das gab es schon in „Othon“ (1969) und „Der Tod des Empedokles“ (1968), nicht aber mit diesen Gesten, wie wir sie hier durch den Darsteller des Kreon zum Beispiel hatten, die sehr viel mit Stummfilm zu tun haben.
Mich hat diese Komik sehr an Filme Bressons erinnert, besonders an „Pickpocket“ (1959), wo es Komik durch eine bestimmte Automatisierung von Bewegungsabläufen gibt, die nicht expressiv und vordergründig ist.
Straub: Das ist die Provokation bei Bresson; in der einen Einstellung wird etwas gesagt, wovon das Gegenteil in der nächsten gemacht wird. Zu diesen Gesten gehört eine große Übung. Das gehört dann fast zum Slapstick: Wenn man nicht die ganze Zeit lacht, muß man doch die ganze Zeit lächeln, wie wenn man Seiltänzer beobachtet, die geschickt sind durch ihre Übung. Das gilt nicht nur für Chaplin, der bis zu einhundertzwanzigmal eine Szene wiederholte, bis sie stimmte, sondern auch für Keaton, W.C. Fields und Lubitsch oder Renoir in „Le Testament du Docteur Cordelier“ (1959) zum Beispiel, wo auch die Kontraste da sind, in diesem gespaltenen Menschen, der nachts sein Unwesen treibt und mit seinem Stock Leute verprügelt. Als ich von „Komik“ sprach, meinte ich aber mehr den Opportunismus der Figuren. Den Aspekt, den Sie meinen und der von Bresson kommt, ist etwas anderes; das ist die „Innervierung“ (influx nerveux),wie in Tatis letztem Film „Parade“ (1974), bei einem Abend im Zirkus.
Huillet: Sehen Sie, eine scheinbar einfache Sache, wie der Bewegungsablauf, mit dem der Wächter im Film sein Geldsäckchen öffnet und wieder verschließt, den Text unterbricht und wieder zu ihm zurückkommt, muß, damit das „sitzt wie im Traum“, immer wieder wiederholt werden.
Straub: Das ist vielleicht keine große Leistung, aber es dauerte, bis er das fast „trotzig“ machte – und da kommt man dann zur „Komik“ –, da sich einer einfach frech „die Zeit nimmt“, das zu tun vor dem Herrscher und dem Chor, vergißt, daß sich die anderen gar nicht dafür interessieren, was er da tut, daß das gar kein Beweis für das ist, was er zuvor gesagt hatte und so weiter. Er hat das so lange geübt, bis er das wie ein Schlafwandler macht. Ich habe schon damals zu „Nicht versöhnt“ (1964/65) gesagt: Das sind alle Schlafwandler, und man muß das Ganze wie einen „Fächer“ von Spielweisen akzeptieren.
Das ist ein bestimmter Gebrauch von Zeit, eine „Gegen- Zeit“.
Straub: Das fängt mit einem Naturalismus an und verdichtet sich durch Übung bis zu einer Kondensation der Zeit, die schließlich etwas mit Musik zu tun hat. Wir hatten schon ganz zu Anfang der Proben gesagt: Man arbeitet mit Raum, und ein Film existiert nur, wenn man es erreicht hat, aus dem Raum Zeit zu schaffen. Das ist, was der Film mit Musik gemeinsam hat und nicht mit dem Theater.
Aber jeder Film von Ihnen ist doch auch, wie Sie einmal sagten, ein Liebesfilm, ein politischer „amour-fou“?
Straub: Aber in unseren späten Filmen gilt die „Liebeserklärung“ immer mehr dem „Leben“ – „O Erde, meine Wiege“, wie Hölderlin sagt –, stärker als in den frühen.
Huillet: Der Baum hinter der Antigone ist genauso wichtig wie sie selbst.
Straub: ... und der Ausgangspunkt des Films war gar nicht der Text, sondern der Ort Segesta auf Sizilien.
Ich hatte Sie letztes Jahr vor dem Film einmal nach den Verschiebungen in den Perspektiven von der Theaterfassung zur Filmfassung gefragt. Denn die Perspektiven sind nicht mehr dieselben. Auffällig ist im Film vor allem die Einstellung vom Kameraturm auf das Tal, wo man die Autobahntrasse am Berg sieht.
Straub: In der Schaubühnen- Inszenierung gab es nicht nur keine Autobahn, wir haben auch nicht mit den Höhenunterschieden gearbeitet. Der Film „spielt“ mit einer Perspektive und mit zwei „Höhen“; wir sind entweder in Augenhöhe oder vier Meter fünfzig hoch. Schon die erste Einstellung auf den Kreon ist vier Meter fünfzig hoch, doch man merkt es vielleicht nicht, weil man diesen Ausblick auf das Tal noch nicht hat und wir auch erreichen wollten, daß man am Anfang noch keinen Himmel sieht. Wir ließen die Autobahn einen Millimeter über dem Bildausschnitt. Hier am Schluß hingegen erreicht man, daß man das höchstmögliche Maß an Himmel sieht, aber trotzdem vier Meter fünfzig hoch ist. Der Kreon ist jetzt da unten an der Bildkante eine ganz winzige Figur; das war wichtig wegen des Textes an dieser Stelle, wichtig wegen des Hügels auf der anderen Seite des Tals, nicht wegen der Autobahn.
Die haben wir nämlich nicht, wie manche behauptet haben, aus Gründen der „Verfremdung“ zeigen wollen. Nein, das war nur eine Konsequenz, und wir sagten: gut, kommt eben die Autobahn mit drauf.
Huillet: Die Autobahn wirkt nicht sehr viel anders als die Wasserleitungen, die die Römer gebaut haben. Das ist immer der gleiche Stil.
Straub: Das hat dann „trotzdem“ mit Imperialismus und Zerstörung der Erde zu tun, womit die Römer schon anfingen. Der Hügel hat aber viel mehr Gewicht als die Autobahn, und man kann „trotzdem“ darüber nachdenken, was man sich da unten geleistet hat.
Gibt es eine Art „Entwicklung“ in Ihrer Auffassung, wie Sie Filme politisch machen wollen, seit Sie damit begonnen haben?
Straub: Nein, das habe ich nie gedacht. Es gibt auch keinen Film, den wir nicht hätten so machen wollen, wie er gemacht wurde. Der Preis dafür ist, daß man oft zehn Jahre warten mußte, um einen Film zu realisieren, und noch anderthalb Jahre danach sich ärgern muß, bis ihn ein paar Leute sehen können. Hingegen würde ich gerne alles aus der Welt schaffen, was ich bislang über meine eigenen Filme geschwätzt habe.
Als ich aber in Toulouse noch mal das letzte Drittel des „Empedokles“ gesehen habe, da dachte ich: Donnerwetter, der Text Hölderlins war vielleicht doch stärker als der von Brecht in „Antigone“. Ich habe in Amsterdam den Gustav Leonhardt (Darsteller des Bach in „Chronik der Anna Magdalena Bach“, 1967) getroffen, und er sagte, der „Empedokles“ sei das erste Kunstwerk, wo Augen und Ohren nicht in Konflikt kommen. Das war auch der erste Film, der „zufällig“ eine „Botschaft“ enthielt, eine kommunistische Utopie, obwohl wir uns niemals anmaßen wollten, eine Botschaft zu liefern. Diese Botschaft kam von jemandem, der genau wußte, was die Industrialisierung bringen würde und dagegen als Liebhaber der Erde eine Utopie stellen wollte: „Schönes stirbt in traurigstummer Brust nicht mehr... dann glänzt ein anderer Tag herauf – Sie sind's, die langentbehrten, die lebendigen, die guten Götter...“
Ist das nicht eine politisch sehr melancholische Haltung?
Straub: Das ist doch nicht unsere Schuld und auch nicht die von Brecht oder Hölderlin. Leider kann man seit der Zeit Hölderlins, wo die Gefahr einer Vernichtung der Erde nur spukte, nicht optimistischer sein, da man jetzt in wenigen Jahren mehr zerstört hat als in Hunderten von Jahren zuvor. Bis die „Menschenkinder“ merken: Das kann so nicht weitergehen. Das steckt übrigens im Text von Brechts „Antigone“ schon drin, wenn es heißt: „Dies alles ist grenzlos ihm, ist aber ein Maß gesetzt. Der nämlich keinen findet, zum eigenen Feind wirft er sich auf.“ – So weit sind wir nämlich schon, daß wir „keine Grenzen“ mehr kennen.
„Marchorka-Muff“ (1962) war beschränkt; er war vor allem gegen die „Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) gerichtet, das heißt gegen die Wiederbewaffnung Europas, womit man alles verraten hat, was man sich nach dem Krieg geschworen hatte. Während „Antigone“ „weitschweifiger“ erscheint. Hier geht es nicht mehr um einen Anlaß, sondern ums Ganze, um die Zukunft der Menschen.
Zuvor wird aber noch die Kunst selbst überflüssig und durch „Ereignis“ und communication ersetzt werden.
Ihr Kino war einmal als Versuch gedacht, durch eine neue Technik eine neue Rezeptionsweise für einen „klassischen Text“ zu finden, die Lektüre aus ihrer – bürgerlichen – „Privatsphäre“ zu entlassen.
Straub: Wir haben immer davon geträumt, zunächst unbewußt, ein wenig der Druckerpresse Konkurrenz zu machen, daß man an eine Zeit erinnert, da die Kultur etwas Mündliches und nicht durch private Lektüren geregelt war. Trotzdem haben Filme wie „Empedokles“ und „Antigone“ mehr mit dem Stummfilm zu tun als die sogenannten „filmischen“ Filme der Gegenwart, weil das Bild in allen Teilen gleichwertig ist und der Mensch nicht der Mittelpunkt des Bildes, sondern genauso wichtig ist wie eine Lichtbewegung oder ein Windstoß. Das ist, was wir suchen, was aber in den ersten Filmen vielleicht noch nicht ganz drinsteckt.
Das haben wir auch im „Cézanne“-Film (1989) versucht, wo der Cézanne etwas ganz ähnliches sagt. Sie müssen wissen, Cézanne konnte Lukrez' „Über die Natur“ fast auswendig. Beim Hölderlin kommt das nicht von Lukrez, den er wahrscheinlich nicht sehr gut kannte, sondern von Empedokles selbst, der den Lukrez stark beeinflußt hat.
Das erscheint mir bei Ihnen auch ganz neu zu sein, dieser Versuch in „Cézanne“, Film geradezu als Fortsetzung der Malerei zu betrachten...
Straub: Sie haben es selbst gesagt, es ist ein „Versuch“. Die Antwort ist ganz einfach: Wir haben zum ersten Mal einen „Essay“ gemacht, der weder ein Dokumentarfilm noch eine Fiktion ist. Man bringt Sachen zusammen, einen Text von Cézanne, ein Stück aus Renoirs Film „Madame Bovary“ (1933) über das Elend damals und dann plötzlich etwas aus dem „Empedokles“-Film, ein Stilleben von Cézanne und so weiter. Das sind dann Blöcke, die aufeinander reagieren, die versuchen, einen Gedanken zu entwickeln.
Mit dem Filmstart von „Antigone“ laufen in einigen Städten der Bundesrepublik Retrospektiven der Filme von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub.
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